www.terz.org/texte/texte_1511/nsu.htmlBabel, selbstgemacht
oder:
Wer aufklären will, muss zuhören können
Im Oktober 2015 sollte die Arbeit des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) des Landtags NRW zu den Aufklärungs- und Ermittlungsschritten von Sicherheits- und Ermittlungsbehörden in NRW nach den Morden und Anschlägen des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) und seiner Netzwerke ganz im Zeichen des Perspektivwechsels stehen. Mit Offenheit und Zugewandtheit wollte der Ausschuss sich etwa der Zeug*innenschaft derjenigen widmen, die den Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße im Sommer 2004 erlebt hatten.
Drei Zeugen hatten die Fraktionen des PUA für den 19. Oktober 2015 geladen. Genau zwei Monate, nachdem die Ausschussmitglieder des Landtags-Untersuchungsausschusses begonnen hatten, sich dem Tatkomplex „Keupstraße“ zuzuwenden, wollten sie erstmals drei Menschen befragen, die den Tattag, den 9. Juni 2004, in der Keupstraße erlebt hatten. Menschen, denen Wunden zugefügt worden waren, deren Narben in jedem Sinne bis heute nicht verheilt sind. Die nicht verheilen konnten. Denn allen Anwesenden war es an diesem Mittag im Landtag bewusst: Es würde um den „Anschlag nach dem Anschlag“ gehen. Um jene Zeit, in der die Anwohnerinnen und Anwohner der Keupstraße, Menschen, die zufällig in „der Straße“ waren, als die Bombe hochging, Menschen, die von der Sprengkraft der Nagelbombe hätten getötet werden können, wenn glückliche Zufälle sie nicht vor schlimmsten körperlichen Verletzungen bewahrt hätten, Menschen, die an diesem Tag auf der Straße gearbeitet hatten, vor den Geschäften in der Keupstraße den sommerlichen Nachmittag genossen hatten ...: plötzlich unter Verdacht standen. Verdächtigt, den Anschlag verübt oder geplant zu haben. Verdächtigt, Teil eines Zusammenhanges zu sein, dem der Anschlag gegolten habe: PKK, türkische Mafia, „Ausländerkriminalität“ ...
In alle Richtungen, so hatten die aufmerksamen Besucher*innen und Ausschussmitglieder bereits in den vergangenen Ausschuss-Sitzungen von bisher verhörten Zeugen aus der Ermittlungsleitung des Kölner Polizeipräsidiums oder aus der Staatsanwaltschaft vernommen, sei nach dem 9. Juni 2004 ermittelt worden. Doch da Bundesinnenminister Otto Schily nur einen Tag nach dem Anschlag aus der Ferne festgestellt hatte, dass es sich nicht um eine Tat mit „terroristischem Hintergrund“, wohl aber um einen Anschlag mit Ursprung im „kriminellen Milieu“ handele, waren schon damals „alle Ermittlungsrichtungen“ nicht mehr ganz so vollumfänglich offen, wie sich so mancher Ermittlungsbeamte heute noch erinnern möchte. Damals, am 10. Juni 2004 schrieb staatsräsonierend die FAZ: „Nach etwa zwanzig Stunden Ermittlungen hat sich für die Kölner Polizei das Bild verfestigt, für das es schon früh Hinweise gab. Für die Explosion, die am Mittwochnachmittag den nördlichen Kölner Stadtteil Mülheim kurz vor 16 Uhr aus seinem geschäftigen Rhythmus riß, gibt es offenbar keinen terroristischen Hintergrund.“ Und „Oberstaasanwalt Rainer Wolf“ hätte ebenso rasch mitgeteilt, dass es ein „allgemeindeliktischer Hintergrund“ sei, den Ermittlungsbehörden und Staatsanwaltschaft „in Erwägung“ zögen. Eben jener (heute ehemalige) Oberstaatsanwalt Wolf hatte erst Anfang September 2015 im Ausschuss als Zeuge ausgesagt. Bei dem Versuch, heute glaubhaft zu versichern, wie ergebnisoffen seinerzeit recherchiert worden war, hatte er – wenig überraschend – keine besonders gute Figur gemacht (TERZ 10.15).
Heute wissen alle, dass diese beschränkte Einschätzung damals falsch war. Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass es Menschen – wie den pensionierten Oberstaatsanwalt Rainer Wolf – gibt, die heute fest davon überzeugt sind (oder so tun), dass es diesen falschen Fokus, diese begrenzte Blickrichtung gar nicht erst gegeben hätte. Ändern tut sich leider auch nichts, wenn wir uns in Erinnerung rufen, wie Antifaschist*innen den Anschlag seinerzeit einordneten.
Wie Kühlschränke, so kalt
Ganz anders: „auf der Straße“. Noch bevor er zu Boden gefallen war, umgeworfen von der Druckwelle der Bombe, sei es ihm klar geworden. Nichts von all dem, worüber später spekuliert wurde, würde stimmen. Es war nicht die Mafia, auch kein innertürkischer Konflikt oder einer zwischen Türken und Kurden. Arif S., der erste Zeuge, der am 19. Oktober 2015 in den PUA geladen war, erinnert sich erschütternd lebhaft: ihm sei bewusst gewesen, sofort und ohne Zweifel: hier sind Menschen am Werk, die Ausländer hassen. Darum der Anschlag auf genau dieser Straße, darum um diese Uhrzeit, wo viele Menschen unterwegs waren. Doch schon an diesem 9. Juni 2004 habe er gemerkt, dass er seine Gedanken nicht würde aussprechen können. Wie kann man seiner Familie von dieser Vermutung erzählen, ohne sie in Angst zu versetzen, dass eben dieser Hass morgen wiederkommen wird? Kann man erzählen, was – draußen, jenseits „der Straße“ – niemanden interessiert? Bringt es etwas, auf ein rassistisches Motiv hinzuweisen, wenn die ermittelnden Behörden längst eine ganz andere Meinung haben und ihrerseits einen ganzen Haufen rassistischer, vorurteilsmotivierter Verdächtigungen im Gepäck haben, wenn sie zu den Vernehmungen kommen?
Und genau so war es: Wenige Tage nach dem Anschlag, berichtet Arif S. dem Ausschuss, seien zwei oder drei Beamte in Zivil in sein Ladenlokal gekommen. „Wie Kühlschränke, so kalt“ seien sie ihm und seinem Neffen gegenübergetreten. Der Neffe habe übersetzen müssen – eine*n Dolmetscher*in hätten sie nicht mitgebracht. Und schon bei dieser ersten Befragung habe er sich gewundert, warum die Ermittler sich nur für ihn als Türken, für ihn als Teil der türkischen Community interessiert hätten. PKK? Mafia? Fragen, die sie nicht hätten stellen brauchen, wenn sie – wie Arif S. – nur einmal ernsthaft in Erwägung gezogen hätten, dass es ein Anschlag mit rassistischer Motivation gewesen sein könnte.
Als er, wiederum wenige Tage später, erneut Besuch von Ermittlungsbeamten in Zivil bekommen habe – wieder habe sein Neffe als Übersetzer herhalten müssen, der nur habe sprechen dürfen, wenn es um die Übersetzung ging – kam es zu dieser bemerkenswerten Szene, von der Arif S. auch den Ausschussmitgliedern elf Jahre später erzählte: Nur andeutungsweise habe er den Beamten gegenüber von seiner Vermutung gesprochen, dass die Keupstraße und ihre Bewohner*innen und Passant*innen, zumeist Menschen mit Migrationsgeschichte, hätten getroffen werden sollen, weil die Täter*innen mit rassistischen Motiven gerade diesen Ort ausgewählt hatten: da habe der vernehmende Beamte den Finger auf den Mund gelegt: „schhh“ ... Auch wenn er die Worte, die der Beamte ihm auf Deutsch gesagt habe, nicht verstehen konnte: die Geste war eindeutig.
Hierzu nachhakend gefragt hatte ihn der CDU-Obmann Peter Biesenbach. Denn auch wenn er eingangs dieser ersten Fragerunde, mit der die CDU-Fraktion begann, betonte, dass er anerkenne, wie belastend die Aussage für den Zeugen sei und der Ausschuss nun – leider – alte Wunden wieder aufreißen müsse, ließ es sich der Christdemokrat mit seinen stets glatt und messerscharf formulierten Redebeiträgen nicht nehmen, nachzubohren, wo es nur ging. Wie er denn genau darauf gekommen sei, dass die Geste des Fingers auf den Lippen des Polizisten in Zivil ein „Schweigen Sie“ bedeutet habe? Gibt es, fragt sich die Zuhörerin, eine andere Bedeutung dieser Geste? Eine, die nur Peter Biesenbach kennt?
Schweigen als Albtraum
Weniger spitzfindig oder neugierig waren nicht nur die CDU-Fraktionsangehörigen des PUA, sondern vielmehr alle Ausschussmitglieder, als es im Weiteren um eine mehr als eindrückliche Schilderung des Zeugen Arif S. ging. Er berichtete, wie die Ermittlungen „in der Straße“ weitergegangen seien. Schon bald, so Arif S., habe er bemerkt, dass er im öffentlichen Raum, auf dem Nachhauseweg, von der U-Bahn kommend, häufig von einem immer gleichen PKW begleitet werde. Schnell war ihm klar, dass er beschattet werde. Ein Blick aus dem Fenster seiner Wohnung gab Gewissheit: kaum löschte er das Licht im Zimmer, sei der Wagen davongefahren. Manchmal, sagt er, habe er sich beinahe überlegt, ob er die Herren in dem PKW nicht nach oben bitten, einen Kaffee anbieten solle, wenn sie sich schon die Mühe machten, ihn zu beobachten. Doch wo diese Schilderung mehr als deutlich Anlass geboten hätte, nachzuhaken, die Wirkung Verdeckter Ermittlungen noch einmal klarer herauszuarbeiten und diesen Sachverhalt deutlich als bemerkenswert zu markieren – immerhin waren Verdeckte Ermittlungen unter den Keupstraßen-Bewohner*innen selbst bereits mehrfach Thema vorhergehender Befragungen im Ausschuss gewesen –: kein Wort, keine Nachfrage, kein Aufhorchen erfüllte den Sitzungssaal. Genauso, wie es offenbar niemanden zu weiterführenden Fragen anregte, dass Arif S., wie auch der zweite Zeuge, Muhammet A., davon berichteten, dass Tage vor dem Anschlag häufiger unbekannte Männer in kleinen Gruppen „in der Straße“ aufgefallen waren. Ob es „Türken“ oder „Deutsche“ gewesen seien, war die einzige Ergänzungsfrage, die hierzu kam. Wenig überraschend: es mögen „Deutsche“ gewesen sein. Aber wer genau? Die Täter vielleicht? Ihr Netzwerk?
Wie Arif S. indes ganz konkret auf die Idee gekommen sei, dass es ein rassistisch motivierter Anschlag gewesen sein könne, das schien die Politiker*innen dann doch umzutreiben. Ob „auf der Straße“ zuvor schon einmal Nazis wahrgenommen worden seien, fragte die FDP. Habe es denn überhaupt ein Bewusstsein für eine Bedrohung durch Rassist*innen gegeben – vor dem Anschlag?, wollte der ehemalige Polizeibeamte Andreas Kossiski (SPD) wissen. Was habe ihn also so sicher sein lassen, zuerst an einen Angriff von Rechten denken zu lassen, nicht aber an Schutzgelderpressung, Mafia oder PKK? So krude die Nachfragen, so emotional formulierte Arif S. seine Antwort: Kreuz und quer über „die Straße“ habe man zusammen gelebt und gearbeitet. Miteinander gesprochen, gefeiert. Die Zeit verbracht habe man gemeinsam „auf der Straße“. Nichts von alldem, was die Ermittlungen damals hätten hervorholen wollen, hatte er zuvor wahrgenommen.
Sieben Jahre, bis zur Selbstenttarnung des NSU im November 2011, habe es gedauert, bis der immense Druck, der durch die Ermittlungen auf seiner Schulter gelastet hätte, sich am Ende gelöst habe. Richtig ist seine Einschätzung gewesen. Von Beginn an. Sein Schweigen und Verdrängen, das für ihn in seiner Familie den Alltag habe lebbar machen sollen, das sieben Jahre lang jedes freie Atmen erschwert hatte, wurde durch die plötzliche Sicherheit, dass es „niemand von der Straße“ gewesen war, gewiss nicht ertragbarer – auch nicht im Rückblick.
Versäumte Versäumnis-Ermittlungen
Die bemerkenswerte Genügsamkeit der Ausschuss-Mitglieder zog sich durch den gesamten Nachmittag. Niemand wollte von Arif S. oder dem zweiten Zeugen, Muhammet A., wissen, warum genau sie denn keinen Arzt aufgesucht hätten und warum sie mit dem Verzicht auf die Behandlung ihrer Verletzungen oder einer Aussage zu ihrer Einschätzung die Aufmerksamkeit lieber doch nicht auf sich gezogen hätten. Warum sie als Kurden, als Menschen mit kurdischen Familienangehörigen, geschwiegen hätten, lieber unauffällig geblieben seien, machte niemanden im Ausschuss neugierig. Anders als die bohrende Nachfrage, wieso Arif S. denn auf den Gedanken gekommen sei, dass es ein rechtsmotivierter Anschlag gewesen sein könnte, fragte niemand, inwiefern etwa Muhammet A. denn Grund zu der Annahme gehabt habe, dass er weiterer peinlicher Befragungen durch die Polizei ausgesetzt sein würde, wenn deutlich geworden wäre, dass er Kurde ist. Und nur ein kleines Seufzen, ein Hauch von Erstaunen ging durch die Reihen, als Muhammet A. erzählte, wieso er, anders als Arif S., doch sehr bald nach dem Anschlag darüber nachgedacht habe, ob es nicht vielleicht doch die türkische Mafia oder die PKK gewesen sein könnte: Wenn ein Mann wie Bundesinnenminister Otto Schily, jemand der Gewicht hat in diesem Land, der etwas zu sagen hat, so A., äußere, dass es keinen Hinweis für einen rechten Terroranschlag gäbe, nun, dann könne er sich doch eigentlich sicher sein, dass dieser Mann wisse, wovon er spreche.
Beinahe sprachlos macht es, wahrzunehmen, wie die vorurteilsvollen Veröffentlichungen, die Lenkungen von öffentlicher Wahrnehmung und Meinung auch mitten in der Keupstraße haben greifen können. Ob Otto Schily bewusst ist, wie tief die Einschnitte, die Zweifel, die zermürbenden Selbstbefragungen des „Warum ich?“ und „Warum wir?“ für die Betroffenen bis heute wirken. Und wie er und seinesgleichen auf der nach unten offenen Befehlskette des bundesdeutschen Innenministeriums diese Zweifel an der Integrität der eigenen Nachbarn bei den Menschen von der Keupstraße ausgelöst und verstärkt haben mögen? Der „Anschlag nach dem Anschlag“ war insofern mehr als das Ergebnis vorurteilsbehafteter Ermittlungen, die sich entgegen der Hinweise von den Betroffenen gerade eben gegen diese selbst richteten, als Teil einer überwiegend türkischen Community und unter dem Verdacht von „Ausländerkriminalität“ oder Konflikten innerhalb dieser migrantischen Struktur. Mit dem ‚Expertenwissen‘ eines Otto Schily brannte sich auch mitunter der Selbstzweifel gegenüber „der Straße“ selbst ein.
Ein bisschen aushelfen
Selbst wenn sie es gewollt hätten, hätten die Politikerinnen und Politiker aber weder oberflächlich noch wach und informiert nachfragen können, wenn nicht die Zeugen selbst dafür gesorgt hätten, dass dies auch rein ‚technisch‘ möglich wurde. Denn bereits zu Beginn der Ausschuss-Sitzung stellte sich heraus, dass in Vorbereitung des PUA eine wesentliche Voraussetzung für ein Verstehen, ein Verstehenkönnen, gar nicht erst gegeben war. Denn der vom Ausschuss bestellte Dolmetscher, der insbesondere die ersten beiden Zeugen, Arif S. und Muhammet A., bei ihrer Aussage für die übrigen Anwesenden zu übersetzen hatte, stellte sich sehr rasch als überfordert, sicher aber als nicht präzise genug heraus. Nur auf die Intervention der Zeugenbeistände hin, eines Vertreters der Opferberatung Rheinland (OBR) und eines weiteren zweisprachigen Zeugenbeistandes, der eigentlich ‚nur‘ hätte zwischen dem Mitarbeiter der OBR und dem Zeugen S. hätte übersetzen müssen und dürfen, wurde überhaupt deutlich, dass der vereidigte Dolmetscher z.B. an empfindlichster Stelle sehr frei übersetzte. Wo der Zeuge Arif S. davon gesprochen hatte, dass er sich „sicher“ sei, dass er zweimal in seinem Laden vernommen worden ist, sprach der Dolmetscher davon, dass Arif S. dies „glaube“. Keine Petitesse auf dem komplizierten Weg des Sprach- und Kulturvermittelns. Dem Ausschuss sei zugutegehalten, dass er diese Unzulänglichkeit rasch zu beheben bemüht war, noch bevor die schwierige Situation den gesamten Ausschuss-Tag hätte platzen lassen müssen. Denn ohne großes Aufhebens über die Reglements und Gepflogenheiten des Strafprozessrechtes zu machen, an dem sich die Sitzungsabläufe eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses orientieren, wurde der im Zeugenbeistand vom Zeugen selbst ‚mitgebrachte‘ deutsch-türkische Kutlu Y. gebeten, die Übersetzungen für zwei der drei Zeugen des Tages zu übernehmen. Dass er diese Aufgabe gewissenhaft und fehlerfrei übernehmen werde, darauf könnten ja, so der Ausschussvorsitzende Sven Wolf (SPD), die ebenfalls türkischsprachigen Politiker*innen im Ausschuss Acht geben. Wenig wertschätzend geriet dem Vorsitzenden neben dieser unterschwelligen und vielleicht auch unbewussten Herabwürdigung der Zeugen und ihrer Begleitung aber auch die Verabschiedung des ‚spontanen‘ Dolmetschers, als er ihm bei Ende seines Einsatzes dafür dankte, dass er „ein kleines bisschen ausgeholfen“ habe.
Schlussendlich: Nur dank dieser unkonventionellen Lösung konnte an diesem Tag überhaupt ein Stück weit eingelöst werden, was höchst notwendig ist: Den Menschen zuzuhören, die von dem Anschlag getroffen worden sind. Denen die Möglichkeit zu geben zu erzählen, die nach dem Anschlag den institutionellen Rassismus der Ermittlungsbehörden erfahren haben. Davon zu erfahren, was es bedeutet, wenn ein Mensch, der einen Anschlag überlebt hat, selbst beschuldigt wird. Was es heißt, sieben Jahre lang nicht schlafen zu können, weil der Knall der Explosion, der Druck des Anschlages im konkreten wie im übertragenen Sinne bleibt, so lange nicht klar ist, wer die Bombe gelegt hat. Und wie dringend und mit welch großem Recht die Menschen, für die sich die Welt seit dem 9. Juni 2004 anders dreht, erwarten können, dass ihnen Gehör geschenkt, und dass ihnen Unterstützung angeboten wird. Wenn Abdulla Ö., der im Moment der Explosion im Friseursalon war, als die Bombe in dem Fahrradkoffer auf dem Gepäckträger des Fahrrades vor dem Friseurgeschäft hochging, heute im Ausschuss davon berichtet, wie lange man ihn und andere „aus der Straße“ hängengelassen habe mit seinen Erinnerungen, seinen Narben und den Eindrücken, nur mit Glück einem rassistischen Mord entgangen zu sein, wird einmal mehr deutlich, dass institutioneller Rassismus, vorurteilsgetriebene Ermittlungen oder das Wesen des Verfassungsschutzes mit seinen V-Leute-Strukturen nicht die einzigen Versagensmomente sind, die es im Untersuchungsausschuss aufzuklären gilt. Wissen und Öffentlichkeit über dieses Versagen kann eine Wiedergutmachung sein. Moralisch aber wird es keinen Brückenschlag geben können, der nur ansatzweise dem gerecht wird, was nötig ist, wenn die Mitglieder im Untersuchungsausschuss im übertragenen Sinne am Ende ihrer Arbeit mit gutem Gewissen jenen in die Augen schauen können möchten, für die sie diese Arbeit eigentlich zu tun haben! Denn wer wirklich aufklären will – der muss zuhören können, egal, in welcher Sprache. Und auch oder gerade wenn es die Mitglieder des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses in dieser besonderen Sitzung am 19. Oktober 2015 nicht ganz so ernst gemeint haben – wir, hier draußen, haben die Zeugen gehört! Danke dafür.
In diesem Sinne, lieber PUA, es bleibt dabei:
We will watch you!