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19.03.2022 14:01
„Keine Fehlerkultur“ bei Polizei
Anschlag von Hanau: Polizeiwissenschaftler darf Stellungnahme nicht vortragen
Von Gregor Haschnik
Thomas Feltes übt als Sachverständiger im Untersuchungsausschuss Kritik an der Arbeit der Polizei - und wird bei seinen Ausführungen eingeschränkt.
Wiesbaden – Es war eine denkwürdige Sitzung des Untersuchungsausschusses zum Terroranschlag von Hanau: Schon zu Beginn sorgte ein Mitarbeiter des Justizministeriums – kein Mitglied des Ausschusses – für einen Eklat. Nachdem der Sachverständige, Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes, am Freitag etwa kritisiert hatte, die Staatsanwaltschaft Hanau hätte Lücken in Ermittlungen nachgehen müssen, versuchte der Beamte offenbar, Einfluss zu nehmen und forderte, nicht-öffentlich weiterzumachen. Als der Ausschussvorsitzende Marius Weiß (SPD) ihm klarmachte, dass er nicht das Recht dazu hat, beantragte Jörg Michael Müller (CDU) eine Unterbrechung.
Feltes hat eine detaillierte Stellungnahme verfasst, die sich unter anderem dem teils nicht erreichbaren Notruf und dem wahrscheinlich verschlossenen Notausgang am zweiten Tatort widmet. Er durfte sie aber nicht vortragen. Weiß hatte vor der Pause erklärt, dies gehöre nicht zu den Beweisthemen, zu denen Feltes geladen war, darunter Einsatztaktik und Krisenmanagement der Polizei. Feltes widersprach entschieden und bemängelte mit deutlichen Worten, keine Einsicht in Ermittlungsakten oder Polizeiprotokolle erhalten zu haben, nur Presseerklärungen der Staatsanwaltschaft, die sich kaum mit polizeilichen Versäumnissen befassten. Offensichtlich bestehe kein Interesse an einer echten Aufarbeitung, was er bei Ausschüssen oft erlebe.
Bei dem Anschlag am 19. Februar 2020 wurden aus rassistischen Motiven neun Menschen ermordet. Dann tötete der Täter seine Mutter und sich selbst. Der Ausschuss soll klären, welche Fehler hessische Behörden gemacht haben.
Terroranschlag von Hanau: Schwere Vorwürfe von Polizeiwissenschaftler an Vorgehen der Polizei
Als die Befragung fortgesetzt wurde, wies Feltes auf zahlreiche Missständen hin, nicht zuletzt im Umgang mit den Hinterbliebenen: Dass sie fünf Tage lang nicht erfuhren, wo die Leichname waren, sei „weder nachvollziehbar noch entschuldbar“, sagte Feltes, der auch Jurist und Kriminologe ist. Solche Fehler hätten zu einer „zweiten Viktimisierung“ geführt, die Betroffenen seien erneut Opfer geworden. Das zu verhindern, sei aber eine ganz wesentliche Aufgabe der Polizei, und sie wäre dazu zumindest nach der ersten chaotischen Phase des Anschlags in der Lage gewesen.
Dass ein Beamter den Krankenwagen mit dem schwerverletzten Said Etris Hashemi zunächst am Losfahren gehindert haben soll, bis die Situation geklärt sei, hält Feltes für äußerst bedenklich und unter Umständen justiziabel. Das komme höchstens bei einem Verdächtigen infrage, und selbst dann sollte der Rettungsdienst das letzte Wort haben.
Polizei umgibt „Mauer des Schweigens“ aus Angst vor Konsequenzen
Als weitere wesentliche Probleme nannte Feltes, dass es bei der Polizei keine Fehlerkultur – aus Angst vor Konsequenzen entstehe eine „Mauer des Schweigens“ –, in Teilen Rassismus und zu wenig Qualitätssicherung gebe. Letzteres sei in Hanau beispielsweise in der mangelhaften Aufnahme des zweiten Tatorts, der Arena-Bar mit angrenzendem Kiosk, deutlich geworden.
Die Polizei müsse ihre Beamten besser auf solche Lagen vorbereiten und viel mehr gegen Rassismus in den eigenen Reihen tun. Sie sollte ihre Rolle beim Anschlag von Hanau von unabhängigen Experten und Expertinnen transparent untersuchen lassen, forderte Thomas Feltes, dann mit den Angehörigen und Überlebenden ins Gespräch kommen und eine Liste mit Fehlern und notwendigen Konsequenzen abarbeiten. Dann komme sie ihrer Verantwortung als Institution nach, nehme die Opfer ernst und stelle den gesellschaftlichen Frieden wieder her.
Terroranschlag von Hanau: Wesentliche Fragen laut Experten nicht behandelt
Der FR liegt Feltes’ Stellungnahme, die er dem Ausschuss vorab zukommen ließ, vor. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen zum Notausgang in der Arena-Bar ein, weil sie keinen hinreichenden Verdacht auf fahrlässige Tötung sah. In der Mitteilung dazu erkennt Feltes viele „Hinweise für Unstimmigkeiten und Unvollständigkeiten“. Er kritisiert zum Beispiel, dass „die wesentliche Frage, ob der Notausgang offen oder verschlossen war“ in den Vernehmungen im Februar 2020 nicht thematisiert worden sei, erst 2021. Die Aussage von Hashemi, dass die Opfer nicht zum Notausgang gerannt seien, weil sie gewusst hätten, dass dieser immer zu sei, werde zwar von der Staatsanwaltschaft zitiert, aber nicht gewürdigt.
Auch seien Aussagen nicht richtig geprüft worden, nach denen die Fluchttür nach Absprachen mit der Polizei versperrt wurde, damit diese bei Razzien hinten nicht sichern musste. Betreiber und Polizei haben den Vorwurf zurückgewiesen. Um die Angaben zu verifizieren, so Feltes, hätte man Beamte, die bei Kontrollen dabei waren, vernehmen müssen. Und die Behauptung, die Opfer hätten in der Bar nur fünf bis sechs Sekunden Zeit zur Flucht gehabt, sei widerlegt – durch die Rekonstruktion des Recherchekollektivs Forensic Architecture. Demnach wären neun Sekunden Zeit gewesen; fast alle hätten sich sicher retten können. (Gregor Haschnik)
Während Thomas Feltes hauptsächlich die Arbeit der Polizei kritisiert, verteidigte bei einer letzten Sitzung einer der Sachverständigen die Beamten. Die Personallage sei „nicht ausreichend“ gewesen.
Kommentar: Auftrag erfüllen
Der Untersuchungsausschuss zum Anschlag von Hanau muss seinen Umgang mit Sachverständigen dringend ändern, wenn er nicht will, dass die Aufarbeitung versandet.
Ein Verdienst des Untersuchungsausschusses zum Anschlag von Hanau ist, dass zu Beginn Opfer-Angehörige gehört wurden. Weil es die Menschlichkeit gebietet und gesellschaftlich notwendig ist. Aber auch, weil sie unmittelbare Zeug:innen sind, die wichtige Angaben machten.
Doch wenn der Ausschuss sie und seinen Auftrag, Versäumnisse hessischer Behörden zu untersuchen sowie notwendige Konsequenzen herbeizuführen, ernstnimmt, muss er seinen Umgang mit Sachverständigen dringend ändern. Wenn sie für ihre Analyse nur Presseerklärungen der Staatsanwaltschaft erhalten und – wie besonders bei den Terminen vor dem Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes zu beobachten – fast nur allgemeine Aussagen treffen können, werden die Befragungen zu einem leeren, nebenbei teuren Ritual, das die Aufklärung kaum weiterbringt. Angehörige empfinden dies zu Recht als Hohn.
Es geht jetzt um entscheidende Details. Dafür müssen den Expert:innen alle Informationen zur Verfügung gestellt werden, die notfalls als vertraulich eingestuft und nichtöffentlich besprochen werden. Eigentlich selbstverständlich, andernfalls braucht man die Fachleute nicht zu laden.
Dass ein Nicht-Ausschussmitglied Einfluss nehmen wollte, und Feltes sich bei seiner Vernehmung zeitweise sogar unter Druck gesetzt fühlte, spricht Bände. Die Stellungnahme, die er nicht vorstellen durfte, muss unbedingt auf die Tagesordnung des Ausschusses. (Gregor Haschnik)
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