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Terror in Deutschland - Der NSU eine Stay-behind-Armee des Tiefen Staates?
28.11.2015 • 07:30 Uhr
Es ist mittlerweile erwiesen, dass die NATO bis 1991 sogenannte „Stay-behind“-Armeen in Europa unterhielt. Klandestine Kampftruppen für die auch Neo-Faschisten rekrutiert wurden. Wolf Wetzel, Autor der Bücher "Der Rechtsstaat im Untergrund" und Der "NSU-VS-Komplex" erkennt diese Muster beim Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) wieder und sieht den Staat in den Terror verwickelt. Die offizielle Version sei die unwahrscheinlichste aller Möglichkeiten. Jens Wernicke interviewte den Autor.
Jens Wernicke: Herr Wetzel, gerade erschien Ihr Buch „Der Rechtsstaat im Untergrund: Big Brother, der NSU-Komplex und notwendige Illoyalität“, in welchem Sie, wie es im Klappentext heißt, „drei zusammenhängenden Strängen untergründiger Staatsaktivitäten“ nachspüren. Wie kam es zu dem Buch?
Wolf Wetzel: Ich möchte die Frage Stück für Stück beantworten. Also: Wie kam es zu diesem Buch? Es hat sich mit und nach der Beschäftigung mit dem „NSU-Komplex“ geradezu aufgezwungen. Seit über drei Jahren beschäftige ich mich mit diesem neonazistischen Untergrund, der 13 Jahre unerkannt in der BRD agiert haben soll. Wie uns die meisten Medien wissen lassen, werden dem NSU elf Morde und zahlreiche Banküberfälle zugeordnet, die zwischen 2000 und 2011 begangen worden sind. Wer in den 70er Jahren politisch aktiv war, den verwundert weder die Mordserie, noch die Bereitschaft, dem Rassenwahn Taten folgen zu lassen. Dass zur neonazistischen Ideologie und Praxis auch ein bewaffneter Untergrund gehört, ist ebenfalls nichts Neues, auch wenn man alles dafür tut, diese Kontinuität zu leugnen. Ich möchte nur an die Wehrsportgruppe Hoffmann erinnern, die bis in den NSU-Komplex hineinragt, sowie an den neonazistischen Terroranschlag auf das Oktoberfest in München 1980, der gerade neu aufgerollt werden muss.
Was mich also stutzig und hellhörig machte, war etwas anders: Kurz nach Selbstaufdeckung des nationalsozialistischen Untergrundes Ende 2011 begann eine behörden- und länderübergreifende Vernichtung von V-Mann-Akten. Eine gezielte und alles andere als wahllose Operation, denn es betraf ausschließlich V-Leute, die im Nahbereich des NSU agiert hatten. Gleichzeitig wurde die 13 Jahre währende Ahnungslosigkeit mit Behördenwirrwarr, Fehlern Einzelner und einer Kette von bedauerlichen Zufällen erklärt. Das passt so gar nicht zusammen, dachte ich mir und beschäftigte mich von da an mit dem NSU-Komplex. Heute weiß man, dass über 40 namentlich bekannte Neonazis als V-Leute geführt wurden, die alle eingesetzt waren, wo sich der NSU „zuhause“ fühlte: im sogenannten „Netzwerk von Kameraden – Statt Worte Taten“.
Da liegt doch die Schlussfolgerung auf der Zunge: Wenn all diese bezahlten Neonazis über den NSU wirklich nichts gewusst haben, dann hätte man doch deren Akten als Beweis überallhin getragen! Was wussten also diese V-Leute und wusste deren V-Mann-Führer ergo also die sie führenden Behörden also? Und warum spricht der ehemalige Vize-Chef des Inlandsgeheimdienstes Klaus-Dieter Fritsche davon, dass keine »Staatsgeheimnisse« verraten werden dürfen, als es im entsprechenden Untersuchungsausschuss im Jahr 2012 in Berlin um die Rolle der V-Leute ging?
In den folgenden drei Jahren interessierte mich also vor allem der Staatsanteil am NSU: Was wussten staatliche Stellen über den NSU, dessen Geburtsstunde aufs Jahr 1998 datiert wird? Gab es Möglichkeiten, die Mordserie zu stoppen? Ging es womöglich um ein passives oder gar aktives Gewährenlassen – und wenn ja, warum?
Nun zu den anderen Strängen im Buch: Mitten in diese Arbeit und Recherche platzte der NSA-Skandal, ausgelöst durch die Veröffentlichung geheimer Unterlagen durch den ehemaligen NSA-Administrator Edward Snowden.
Dass Geheimdienste und Regierungen, gerade auch in westlichen „Demokratien“ schon seit langem daran arbeiten, die Erfassung aller Daten aller Bürgerinnen und Bürger technisch machbar zu machen, ist kein großes Geheimnis. Ich erinnerte mich an ein Interview, dass der Rechtsanwalt Sebastian Cobler mit dem damaligen BKA-Chef Horst Herold gemacht hatte, der sich in den 80er Jahren dem Kampf gegen den so genannten Linksterrorismus verschrieben hatte. Seine Vision klang damals noch größenwahnsinnig und ganz nach Orwell.
Was an der Veröffentlichung geheimer Unterlagen des US-amerikanischen und des britischen Geheimdienstes besonders ist, ist der Nachweis, dass der Traum des damaligen BKA-Chefs von einem panoptischen Staatswesen inzwischen aufgegangen ist. Was in den 80er Jahren noch ein technisches Problem war – im Gigabereich angehäufte Daten zu selektieren, zu verknüpfen und auszuwerten -, ist heute längst Routine … und illegale Praxis obendrein.
Wieder stößt man somit auf einen staatseigenen Untergrund, denn diese praktizierte Totalerfassung wurde verständlicherweise nicht im Parlament besprochen und abgesegnet, geschweige denn durch die entsprechenden Kontrollgremien überwacht.
Was verbindet also den NSU-Komplex mit dem NSA-Skandal, und was unterscheidet sie? Im NSA-Fall geht es um kein Rechtsextremismus- bzw. Rassismus-Problem. Es geht um die Erfassung aller, um die faktische Aufhebung essentieller Schutzrechte, um das gemeinschaftliche Abschalten des „Rechtsstaates“. Die Frage, warum all dies so hingenommen wird, umtreibt mich bis heute. Liegt es daran, dass die meisten damit beschäftigt sind, nicht aus dem Meer der Erfassten in die Pütze der Verdächtigen gezogen zu werden? Liegt es an der Dimension des Angriffes, dass man spürt, dass wir einem Godzilla gegenüberstehen, in dessen Fußstapfen wir einen winzig kleinen Abdruck hinterlassen?
Der dritte Strang ist ein ganz persönlicher, nachtragender, ohne es ganz persönlich zu nehmen. Ich beschäftige mich mit diesem Komplex der Überwachung seit über 30 Jahren, weil ich sie an meiner Person – dank zahlreicher Akten, die ich einsehen konnte – längst sehr genau nachzeichnen kann. Dabei geht es unter anderem um einen V-Mann mit dem uninspirierten Decknamen „123“, der bei einem Gespräch dabei gewesen sein will, in dem ich meine schwere Jugend bis hin zu meinem terroristischen Potenzial offenbart haben soll. Ich hatte damals gegen die Bundesrepublik geklagt, denn … es gab weder diesen V-Mann noch das vermeintlich bespitzelte Gespräch. Der V-Mann war ganz und gar ein Avatar, eine Erfindung des Geheimdienstes. Und was man kaum für möglich hält, ist dann tatsächlich eingetreten: Die Bundesrepublik verlor den Prozess in zwei Instanzen. Das sollte zusammengenommen Grund genug sein, dieses Buch zu schreiben.
Jens Wernicke: Der Titel des Buches „Rechtstaat im Untergrund“ spielt offensichtlich mit einem Paradoxon: Umgangssprachlich kann doch nur das eine oder andere zutreffen also „wahr“ sein: Rechtsstaat oder Untergrund. Ist das richtig sinniert? Oder wollten Sie damit den Begriff vom „Tiefen Staat“ anreißen ohne ihn beim Namen zu nennen?
Wolf Wetzel: Sie haben Recht, der Titel sollte irritieren, zum Nachdenken anregen, scheinbar Paradoxes zusammenbringen.
Mit Rechtsstaat ist im Allgemeinen gemeint, dass die Regierenden gewählt werden und deren Macht kontrolliert wird. Das schließt – leicht erkennbar – terroristische Aktivitäten und die Verfassung brechende Handlungen aus. Mit Rechtstaat ist zudem gemeint, dass sich nicht nur die Machtlosen an Gesetze halten müssen, sondern auch die Herrschenden. Mehr noch, ein Rechtsstaat muss die Beherrschten vor jedem unrechtmäßigen Angriff schützen, ganz egal, ob die Feinde von innen oder außen kommen. Damit will man ihn ganz plakativ und gutgläubig von Diktaturen und anderen Unrechtsregimen abgrenzen.
Nun ist ja hoffentlich aber sowohl im NSU- als auch im NSA-Fall evident, dass die daran beteiligten Behörden alles andere als im Tal der Ahnungslosen gelebt haben. Im NSA-Fall hat das Magazin „Der Spiegel“ die Bundesregierung sogar des „Landesverrats“ bezichtigt. Und das war mehr als provokativ gemeint. Die Erfassung aller Bürger – im Verbund mit NSA und GCHQ – ist nicht nur ein Verfassungsbruch. Es verletzt auch die „Garantenpflicht“, also den Schutz der Bevölkerung vor äußeren Feinden, die in diesem Fall als Freunde vorgestellt werden.
Wenn also diese Totalerfassung aller Bürgerinnen und Bürger seit Jahren praktiziert wird, unter Bruch aller internationalen und nationalen Rechtsgarantien, dann stellt man sich doch die Frage: Wer hat das organisiert, wo wird diese Zusammenarbeit – die ja mittlerweile eingeräumt wird – koordiniert und wie wird sie politisch abgestimmt und nachjustiert?
Damit betreten wir die „Black Box“ im Rechtsstaat und sind gezwungen, im Dunkeln zu tappen. Aber nicht ganz. Denn, und deshalb spiele ich mit diesem Begriff: in einem Rechtsstaat müssten solche Kooperationen zumindest parlamentarisch kontrolliert werden. Bis heute haben jedoch weder die gegenwärtige Regierung noch die Opposition erklärt, dass die entsprechende Zusammenarbeit in den entsprechenden Kontrollgremien „überwacht“ worden sei.
Wenn dies also an allen institutionellen „Sicherungen“ vorbei gemacht worden ist und weiter gemacht wird, und zugleich die Venus als Tatort sowie Aliens als Personal ausgeschlossen werden können, dann ist die Frage wichtig und zwingend: Wer ist hier eigentlich treibende Kraft bei derlei Rechtsbrüchen? Und damit wären wir bei dem, was der Begriff vom „tiefen Staat“ ja gerade zu beschreiben beziehungswiese zu fassen versucht.
Jens Wernicke: Wie kann, wie muss man sich das denn hier, für die BRD vorstellen? Zu welchen Antworten gelangten Sie dank Ihrer Recherchen hier?
Wolf Wetzel: Manchmal hat Geschichte einen langen Atem und versetzt einem im Wissen um diesen in einen guten Gesundheitszustand.
Mit Blick auf den NSU-Komplex habe ich immer betont und deutlich gemacht, dass Schlussfolgerungen vorläufig bleiben müssen, solange überhaupt nur 20 Prozent von dem öffentlich zugänglich ist, was diesen Komplex überhaupt ausmacht.
Das ist kein Grund, vage zu bleiben. Festhalten kann man zum Beispiel, dass es an vielen Tatorten manipulierte Ermittlungsergebnisse gab. Dabei gibt es zudem eine verblüffende Übereinstimmung, die man auch als Spur verstehen kann: Die manipulierten Ermittlungsergebnisse schützen oft andere, weitere Täter – so beispielsweise in Heilbronn 2007.
Dabei ist wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen – das macht der Mordanschlag in Heilbronn besonders deutlich -, dass Rassismus als Begründung für unterlassene respektive falsche respektive manipulierte Ermittlungen nicht ausreicht, zu kurz greift. Dafür gibt es – unfreiwilligerweise – auch einen hochkarätigen Zeugen, den ehemaligen Vize-Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Klaus-Dieter Fritsche. Dieser erklärte dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Berlin im Jahr 2012:
„Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren. (…) Es gilt der Grundsatz „Kenntnis nur wenn nötig“. Das gilt sogar innerhalb der Exekutive. Wenn die Bundesregierung oder eine Landesregierung daher in den von mir genannten Fallkonstellationen entscheidet, dass eine Unterlage nicht oder nur geschwärzt diesem Ausschuss vorgelegt werden kann, dann ist das kein Mangel an Kooperation, sondern entspricht den Vorgaben unserer Verfassung. Das muss in unser aller Interesse sein.“
Ich denke, das sollte als „heiße Spur“ genügen: Wenn die Aufklärung der NSU-Mord- und Terrorserie „Staatsgeheimnisse“ berührt, dann ist das, was den NSU ausmacht und möglich gemacht hat, mehr als einfach eine rassistische und neonazistische Organisation.
Ob der NSU dabei von Behörden benutzt wurde, womit das passive oder aktive Gewährenlassen zu erklären wäre, das hier zu beobachten ist, wäre sicherlich besser zu beantworten, wenn ein Herr Fritsche dank der Behauptung vom „Staatsgeheimnis“ nicht länger Rückendeckung erhielte.
Was sich dahinter alles verbergen kann, belegt die bereits angesprochene Geschichte. Bis Mitte der 90er Jahre galt etwa der plakative Straßenslogan „Deutsche Polizisten schützen die Faschisten“ als billig und flach. Und nicht wenige, die sich angegriffen fühlten, sprachen von Verschwörungstheorien. Das hat sich inzwischen erledigt. Denn was bis dato einer krankhaften Phantasie zugeschrieben wurde, trägt inzwischen ein staatliches Hoheitssiegel. In einer dürren Erklärung ließ die Bundesregierung 2013 wissen:
„Infolge der weltpolitischen Veränderungen hat der Bundesnachrichtendienst in Abstimmung mit seinen alliierten Partnern zum Ende des 3. Quartals 1991 die Stay-behind-Organisation vollständig aufgelöst.“
Was hier in einem Satz ad acta gelegt wird, ist keine Verordnung für alte Glühbirnen, sondern eine jahrzehntelange Zusammenarbeit von Neonazis und Geheimdienst, die eine Blutspur hinterlassen hat, die sich durch ganz Europa zieht. Seit über 40 Jahren wurden neonazistische Gruppierungen als legale und terroristische Variante gestärkt, gedeckt und in einen staatlichen Untergrund integriert. Dieser staatseigene Untergrund erhielt den Namen „stay behind“. Bewaffnet, angeleitet und instruiert wurde er vom Bundesnachrichtendienst.
Dazu gibt es auch auf den NachDenkSeiten sehr gute Recherchen und Interviews, auf die ich verweisen möchte. Hier möchte ich aber einen anderen Aspekt in den Mittelpunkt rücken. Nachweisbar ist inzwischen: Über 40 Jahre und über alle Regierungskonstellationen hinweg wurden Faschisten in einem staatseigenen Untergrund geführt. Dieser Stay-behind-Terror wurde nicht im Parlament „in dritter Lesung“ besprochen und verabschiedet. Wenn auch hier keine Aliens am Werk waren, dann stellt sich die Frage: Welche Regierungspartei, welche parlamentarische Opposition war hier eingebunden, war damit vertraut? Ich habe bei verschiedenen Veranstaltungen die Gelegenheit gehabt, ein paar ausgewiesene Kennerinnen und Kenner des parlamentarischen Geschäfts zu fragen: „Wissen Sie, ob in Ihrer Partei oder parlamentarischen Kontrollgremien über ‚Stay-behind-Aktivitäten‘ gesprochen und befunden wurde?“
Eva Högl, SPD-Obfrau im NSU-Ausschuss in Berlin ließ die Zuschauer wissen: „Das tut doch nichts zur Sache. Das hilft doch nicht weiter.“ Herr Ströbele von den Grünen, Mitglied im parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum NSU und zur NSA-Affäre, lächelte die Frage mit großer Freundlichkeit und mit dem schwachen Hinweis: „Das ist doch alles so lange her“ weg. Und ganz aktuell gab mir Sven Wolf, Vorsitzender des parlamentarischen Untersuchungsausschusses in Nordrhein-Westfalen als Antwort, dass er es jetzt ganz eilig habe, damit er noch seinen Zug bekäme.
Das parteiübergreifende Schweigen zum Stay-behind-Terror liegt nicht nur wie ein dunkler Schatten über dem NSU-VS-Komplex. Es zwingt uns auch, der Frage nachzugehen, wo solche staatsterroristischen Operationen politisch beschlossen werden, wer mit ihrer Umsetzung und Koordinierung betraut war und ist … und wie lange man noch hinnehmen mag, dass der „Rechtsstaat“ fortgesetzt im Untergrund agiert und bis heute alle parlamentarischen Kontrollgremien ihre eigene Ausschaltung exekutieren.
Jens Wernicke: Jetzt haben Sie zwar zur Stay-behind-Struktur gesprochen, aber nicht viel zum NSU-VS-Komplex gesagt. Wie ist die Lage und sind die Erkenntnisse denn hier?
Wolf Wetzel: Mittlerweile darf man – inzwischen selbst in den sogenannten Leitmedien – von massiven Zweifeln sprechen, was die offizielle Version zum Thema NSU angeht. Das gilt sowohl in Hinblick auf die Zahl der Mitglieder des NSU-Netzwerkes – also exakt drei, davon zwei tot sind und die letzte Überlebende schweigt – als auch für die Tatorte etwa in Heilbronn 2007 oder Kassel 2006, wo die Ermittlungsergebnisse massiv in Zweifel zu ziehen sind.
Wenn all das aber nicht mit Pannen und Ermittlungspatzern zu erklären und also zu entschuldigen ist, wie will man das dann anders erklären? Wie entgeht man dem Vorwurf blanker, wirrer Spekulation? Methodisch ausgedrückt: Wie schließt man die Lücke zwischen dem, was nicht stimmen und dem, was man nicht wissen kann?
Natürlich habe auch ich mich immer wieder gefragt: Wie kann ich eigentlich mehr als stets aufs Neue mein Unbehagen gegenüber der offiziellen Version begründen? Ich denke, dass wir heute, nach über vier Jahren „Aufklärung“, zumindest an diesem Punkt angelangt sind: Die offiziellen Versionen sind längst so brüchig geworden, dass ihnen kaum mehr Glauben geschenkt werden kann. Ein sehr engagierter Freund, Thomas Moser, sagte mir kürzlich, er werte die augenblickliche Situation als ein Patt: Die offizielle Version ist kaum noch glaubhaft, „wir“ aber kämen jedoch noch nicht mit einer „anderen“ Version durch.
Tatsächlich liegt das auch ganz stark an den Umständen, die nicht wir, sondern diejenigen zu verantworten haben, die seit vier Jahren Akten, Beweise und Spuren vernichten, die Zeugen massiv beeinflussen, den Einsatz von V-Leuten im Nahbereich des NSU leugnen und noch vorhandene Akten im Namen des Staatswohles unter Verschluss halten. Den Zustand also, im Dunkeln zu tappen, haben nicht wir zu verantworten. Deshalb ist es auch vollkommen in Ordnung, wenn man versucht, sich in der Dunkelheit zu orientieren, also kleinsten Schattenbildern zu folgen und selbst ganz fahle Lichtquellen auszuwerten. Erzwungenermaßen bleibt an dieser Ausdeutung der Makel der Unsicherheit haften, aber anders geht es im Moment schlicht nicht.
Das hat mich – und das wird jetzt einige erstaunen – dann schließlich dazu gebracht, mir die Ermittlungsmethoden der Polizei einmal genauer anzuschauen. Denn auch die Polizei kennt die Wahrheit nicht. Die Ermittler haben im besten Fall viele Spuren, einen Tatort und glaubwürdige Zeugen. Damit kann man viel machen und anstellen! Und das ist eigentlich auch die Aufgabe von Tatortermittlern: tatsächlich in alle Richtungen zu ermitteln. Das ist nicht einfach so daher gesagt, sondern sinnig: Die Indizien und Sachbeweise sprechen meist nicht für sich, sondern bieten nur die Matrix für verschiedene Geschehensabläufe. In der Regel, das kennen alle aus den Tatort-Krimis, gibt es verschiedene Hypothesen darüber, was geschehen sein könnte, was dann zu jeweils verschiedenen Täterprofilen und Verdächtigen führt. Wenn polizeiliche Ermittlungen zu „unverfälschten“ Ergebnissen kommen wollen, spielen sie anhand der Beweislage daher verschiedene Geschehensabläufe mithilfe „operativer Fallstudien“ durch.
Wie kommt man dann zur Wahrheit? Überhaupt nicht. In der kriminaltechnischen Literatur gibt es keine Wahrheit und das ist auch gut so. Es gibt ausschließlich Wahrscheinlichkeitsprognosen, die von einer Plausibilitätskette getragen werden. Anders formuliert: Wenn für einen Geschehensablauf drei Indizien sprechen, für einen anderen hingegen dreißig, dann ist letztere der wahrscheinliche Ablauf.
Wenn man also diese Ermittlungsmethoden vor Augen hat, diese für durchaus brauchbar hält, dann muss man im NSU-VS-Komplex – und das gilt ebenfalls für den NSA-Skandal – zu dem Ergebnis kommen: Genau diese Ermittlungsmethoden wurden außer Kraft gesetzt – neben all den Pannen, die es natürlich immer auch geben kann.
Genau dies kann man sehr präzise an vielen Tatortorten belegen, die mit dem NSU in Verbindung gebracht werden. Angefangen beim Tatort in der Keupstraße in Köln in 2004, über den Tatort Kassel 2006 und den Mordanschlag auf Polizisten in Heilbronn 2007 bis hin zum Tatort in Eisenach in 2011, wo die polizeilichen Ermittlungsergebnisse zu dem Schluss kommen, dass sich die beiden NSU-Mitglieder selbst umgebracht haben sollen.
Vergleicht man also die „Ermittlungsergebnisse“ mit den skizzierten polizeilichen Ermittlungsgrundsätzen, kann man eines zweifelsfrei festhalten: Die offizielle Version ist die unwahrscheinlichste aller Möglichkeiten. Die Fakten, Spuren, Indizien und Zeugenaussagen, die es noch gibt, belegen vielmehr einen anderen Geschehensablauf, führen –vorsichtig formuliert – zu weiteren respektive anderen Tätern.
Es geht mir also in meiner Recherche nicht darum, über die vernichteten Akten und Beweismittel zu spekulieren. Denn es gibt eine viel zwingendere Beweisführung als diese indirekte. Es geht um die Beachtung und Auswertung all der Indizien, Spuren und Zeugen, die in der jeweils offiziellen Version unberücksichtigt geblieben sind. Fügt man diese zu einem möglichen Geschehensablauf zusammen, dann ergeben sich Tatabläufe, die eklatant von denen abweichen, die etwa die Anklage in München als Beweis anführt.
Ohne allzu weit auszuholen möchte ich das am Beispiel des Mordes an Halit Yozgat in Kassel 2006 deutlich machen: Für eine direkte Tatbeteiligung der beiden NSU-Mitglieder spricht keine einzige Spur am Tatort. Der angemietete Campingwagen zu dieser Zeit ist nicht mehr als ein indirektes, also ein sehr schwaches Indiz. Das spricht nicht dagegen, dass diese Tat in die ideologische und rassistische Ideologie des NSU passen würde – was ja auch das entsprechende Video belegt, in dem der Mord an Halit Yozgat aufgeführt wird. Ganz anders sieht es hingegen mit dem V-Mann-Führer Andreas Temme aus, der sich nicht nur irgendwie in Tatortnähe aufhielt, sondern direkt zur Mordzeit dort anwesend war. Es gibt Zeugenaussagen, die ihn belasten, es gibt Arbeitshandschuhe, die er bei seinen Eltern deponiert hatte, auf denen sich Schmauchspuren befinden, die identisch sind mit der Munition, die beim Mordanschlag benutzt wurde. Und es gibt zahlreiche Falschaussagen wie etwa das Leugnen, dass er zur Tatzeit im Internetcafé war oder die Behauptung, dass er vom Mord nichts mitbekommen habe, obwohl der Tisch, auf den er das Geldstück für die Internutznutzung gelegt hatte, voller Blutspuren war – das Geldstück hingegen nicht.
Und es gibt ein Motiv: Er ist seiner Jugend, wo man ihn „Klein-Adolf“ gerufen hatte, treu geblieben. Zahlreiche neonazistische Literatur einschließlich eines Auszuges aus dem Buch „Mein Kampf“ fand man bei Hausdurchsuchungen in seinem Besitz.
Ob all dies Tatbegünstigung bzw. Täterwissen offenbart, ob er Beihilfe geleistet hat oder gar selbst in den Mord involviert ist, spielt hier keine Rolle. Es geht ausschließlich darum, anhand der allen vorliegenden Indizien, festzuhalten: Wenn eine Indizienkette aktuell überhaupt eine Anklage begründet, dann ist eine solche gegen den hessischen Geheimdienstmitarbeiter Andreas Temme.
Also gegen jemanden, der für jenen Staat tätig ist, von dem wir wissen, dass er auch Neonazis in Stay-behind-Operationen organisiert und bewaffnet hat. Terror, wohlgemerkt, der hunderte von Menschen das Leben gekostet hat. Neonazis und Organisationen, deren Namen bis heute „Verschlusssache“ sind.
Jens Wernicke: Ich bedanke mich für das Gespräch.