www.freiepresse.de/NACHRICHTEN/TOP-THEMA/Was-wussten-die-Geheimdienste-vom-NSU-artikel9469596.phpWas wussten die Geheimdienste vom NSU?
Ein Verfassungsschützer ist am letzten Tatort der Migrantenmord-Serie dabei, verschwindet und fachsimpelt später mit Kenntnissen zur Waffe. Nicht nur sein Neonazi-V-Mann hat Kontakt ins NSU-Umfeld. Hessische Geheimdienstler und der BND begleiten den NSU von der Wiege bis zur Bahre. Hängt alles zusammen? Mögliche Antworten liegen unter Verschluss - bis mindestens 2042.
Von Jens Eumann
erschienen am 21.03.2016
Kassel/Eisenach. Manchmal dreht die Polizei den Spieß um. Dann kommt es dazu, dass nicht der Geheimdienst Menschen abhört, sondern dass stattdessen Geheimdienstler abgehört werden. Im Mai 2006 war das der Fall. Der Grund: In dem hauptamtlichen hessischen Geheimdienstmann Andreas T. machte man einen Komplizen bei einem Mord aus.
Der damals 39-Jährige galt als Verdächtiger, als am 6. April 2006 der 21-jährige Halit Yozgat in seinem Internet-Café in Kassel erschossen wurde.
Die Verdachtsmomente: Andreas T. war zur Zeit des Mordes am Tatort gewesen - wie noch vier weitere Kunden. Anders als die anderen aber hatte er, just als die Schüsse auf den Besitzer fielen, die Räume des Internet-Cafés verlassen. Auf einen Aufruf der Polizei, der unerkannt verschwundene Zeuge möge sich melden, reagierte er nicht. Einer der anderen Zeugen aber beschrieb den Unbekannten genau. Eine Plastiktüte habe er in der Hand gehabt, eine langgezogene Tüte mit dunklem, schwerem Inhalt.
Was trug der Geheimdienstler Andreas T. in seiner Plastiktüte?
Anhand winziger Plastikspuren von anderen Tatorten wussten die Ermittler, dass man die Morde der sogenannten Ceska-Serie mit einer in eine Plastiktüte gehüllten Pistole vom Typ Ceska 83 verübte. Die Vorgehensweise diente dazu, Patronenhülsen aufzufangen, um möglichst wenig Spuren zu hinterlassen. Auch der Mord in Kassel stellte sich als einer dieser Serie heraus, als einen Monat nach der Tat das Gutachten zu den am Tatort gefundenen Projektilen vorlag.
Nachdem man T. anhand der Computer-Protokolle des von ihm genutzten Rechners ausfindig gemacht hatte und seine Kleidung beschlagnahmte, ergab sich noch ein Verdachtsmoment. An seinen Lederhandschuhen befanden sich Schmauchspuren, was für einen Sportschützen wie T. zwar nicht ungewöhnlich sein mochte, doch wies die chemische Zusammensetzung eines der Schmauchpartikel laut BKA-Gutachten eine Besonderheit auf. Sie war "typisch" für die beim Mord benutzten Patronen. Die fragliche Munition des tschechischen Herstellers Sellier & Bellot war in T.s Schützenverein nicht üblich, wie "Freie Presse"-Recherchen ergaben.
Andreas T. versuchte, alles mit einer Verkettung von Zufällen zu erklären. Bezüglich seines letzten Besuchs im Internetcafé habe er sich zunächst im Datum vertan. Deshalb habe er sich von dem Aufruf an den unbekannten Zeugen gar nicht angesprochen gefühlt. Auch sei ihm der Besuch im Café vor seiner hochschwangeren Frau peinlich gewesen, weil er im Netz eine Flirt-Plattform frequentierte. Andreas T. betonte, im Grunde sei er nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.
Die Ermittlungen gegen ihn verliefen 2006 im Sande. Nicht zuletzt, weil sie von höchster Stelle torpediert wurden. Hessens damaliger Innenminister Volker Bouffier (CDU), heute Ministerpräsident des Landes, verweigerte der Polizei die Befragung der V-Leute, die Andreas T. als Quellen geführt hatte. Neben mehreren Spitzeln in der Islamisten-Szene hatte T. auch einen rechtsextremen V-Mann gehabt: den Kasseler Neonazi Benjamin G., der als "Quelle 389" geführt wurde.
Anders als die Polizei zur Zeit des Mordes hatten inzwischen mehrere andere mit dem Fall Befasste sehr wohl die Chance, V-Mann Benjamin G. zu vernehmen, allerdings unter anderen Vorzeichen. Seit dem Auffliegen des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) im November 2011 gelten die mutmaßlichen Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt als Täter der neun Ceska-Morde, von denen der im Kasseler Internetcafé der letzte war. Ende 2013 lud man Benjamin G. als Zeugen in den NSU-Prozess am Oberlandesgericht München. Erst Ende Februar 2016 fühlte der hessische Untersuchungsausschuss dem früheren V-Mann auf den Zahn, um die Rollen zu klären, die sein nun nicht mehr als Hauptverdächtiger geltender V-Mann-Führer Andreas T. und er selbst beim Mord gespielt haben mochten.
Auch wenn die Haupttäter Mundlos und Böhnhardt heißen, erklärt Andreas T.s Version seiner zufälligen Anwesenheit am Tatort zweierlei schließlich nicht: Zum einen, woher der V-Mann-Führer schon einen Monat vor dem Vorliegen des Gutachtens über die in Kassel genutzte Mordwaffe Bescheid wusste. Am 10. April, vier Tage nach dem Mord, fachsimpelte er gegenüber einer Kollegin, dieser sei mit jener Waffe verübt worden, die bereits bei anderen Morden bundesweit verwandt worden war. Der Polizei lag das Gutachten zur Tatwaffe erst am 8. Mai, einen Monat später, vor.
Zum anderen holpert Andreas T.s Zufalls-Version noch, wenn seine abgehörten Telefongespräche ins Spiel kommen. Da ist jener Satz, mit dem ein Vorgesetzter beim Landesamt für Verfassungsschutz am 9. Mai 2006 ein Telefonat mit Andreas T. begann: "Ich sage ja jedem, eh, wenn der weiß, dass irgendwo so was passiert, bitte nicht vorbeifahren." Das hatte der Geheimschutzbeauftragte des hessischen Verfassungsschutzes, Gerold-Hasso Hess, dem vom Dienst suspendierten T. bei dessen Anruf in der Dienststelle gesagt. Wegen des damals bestehenden Mordverdachts gegen T. schnitt die Polizei das Gespräch mit.
Es hatte schon etwas Aberwitziges, als im Münchner NSU-Prozess Hess und anderen hessischen Geheimdienstlern ihre abgehörten Gespräche öffentlich vorgespielt wurden und der Richter sie dazu verhörte. Die alles überlagernde Frage lautete: Wenn Andreas T. auch nicht mehr als Verdächtiger galt, wie viel wusste er vorab über das Geschehen, das am Nachmittag des 6. April 2006 im Internetcafé an der Holländischen Straße stattfinden sollte? Und woher hatte er solches Wissen?
Nach Aussage des Geheimdienstlers Gerold-Hasso Hess, der im Gerichtssaal zu seinem augenscheinlich entlarvenden Satz befragt wurde, hatte dieser Satz überhaupt nichts zu bedeuten. Einen Scherz habe er gemacht, als "ironische Eröffnungsklausel", um für das Telefonat mit dem suspendierten Mitarbeiter das Eis zu brechen, behauptete Hess am Oberlandesgericht München. Seine Behauptung wurde hinterfragt. Sie zu widerlegen, gelang nicht.
Warum endete die Ceska-Mordserie, Jahre bevor der NSU aufflog?
Im hessischen Untersuchungsausschuss war man vor der Befragung von Benjamin G. im Februar 2016 um ein paar Erkenntnisse reicher. Aus den Akten weiß man jetzt, dass V-Mann-Führer Andreas T. zwei Wochen vorm Kasseler Mord dienstlich angewiesen worden war, seine V-Leute zur Ceska-Serie zu befragen. Bei Vernehmungen im Untersuchungsausschuss des Bundestags und im NSU-Prozess hatte T. solch einen Dienstauftrag stets bestritten.
Inzwischen ist klar: Das Bundeskriminalamt (BKA) hatte etwa zum Zeitpunkt des Kasseler Mordes mehrere Geheimdienste um Hilfe bei der Klärung der Mordserie gebeten. Beim hessischen Verfassungsschutz (LfV) in Wiesbaden sprach man vor, beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und beim Bundesnachrichtendienst (BND). Letzterer ist zwar für Informationen aus dem Ausland zuständig, doch auch da hoffte das BKA auf Hilfe. Der Hintergrund: Die Suche nach der Tatwaffe hatte kurz nach dem Kasseler Mord einen Sprung nach vorn gemacht. Bisher hatten die Ermittler nur gewusst, dass sie nach einer Pistole vom Typ Ceska 83 suchten - einer Waffe, die seit 1983 von der gleichnamigen tschechischen Firma hergestellt wurde. Rund 180.000 Exemplare gab es weltweit, eine Anzahl, die das Nachverfolgen einer jeden einzelnen Pistole unmöglich machte. Kurz nach dem Kassel-Mord indes reduzierte sich die Zahl in Frage kommender Waffen drastisch. Ein Gutachten zu Spuren an den Projektilen belegte: Diese hatten beim Austritt aus dem Lauf einen Schalldämpfer gestreift. Ceska-83-Pistolen samt Schalldämpfer hatte die Firma nur in überschaubarer Zahl hergestellt. Zunächst lag der Fokus auf einer Charge von 25 Stück, die einst an einen libanesischen Käufer gegangen waren. Zuletzt schwenkte man den Fokus auf 24 Exemplare, die der Hersteller in den 90er-Jahren in die Schweiz geliefert hatte. In diesem Zusammenhang hoffte man beim BKA aufs BND-Wissen zu internationalen Waffengeschäften. Helfen konnte der Dienst aber nicht.
Der Mord im Internetcafé blieb der letzte Ceska-Mord, obwohl zwischen dieser Tat und dem Auffliegen und mutmaßlichen Selbstmord von Mundlos und Böhnhardt noch fünfeinhalb Jahre vergingen. Was die mutmaßlichen Täter abhielt, im Rahmen ihrer Migranten-Mordserie erneut zuzuschlagen, ist rätselhaft.
Fehlgeschlagene Planung? Immerhin gab es in Kassel einen anderen Modus Operandi als bei den acht vorangegangenen Morden. Bisher waren alle Opfer allein an den Tatorten gewesen. In Kassel marschierten der oder die Täter in ein voll besetztes Café. Obwohl sich der Tresen des Besitzers an unübersichtlicher Stelle befand, lief man Gefahr, dass ein Kunde seine Internet-Sitzung oder sein Telefonat in einer der Zellen just im Moment der Schüsse hätte beenden und ins Tatgeschehen platzen können. Oder bekamen die Täter Wind davon, wie sich die Suche nach der Tatwaffe einschränkte?
Er gehe davon aus, dass Geheimdienstler Andreas T. gar nicht zufällig und privat im Internetcafé gewesen war, sondern dienstlich, zitierte die "Frankfurter Allgemeine" den hessischen Landtagsabgeordneten Hermann Schaus (Die Linke). Schaus ist Mitglied im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss. Interviewt hatte die Zeitung ihn im Vorfeld der Befragung von V-Mann Benjamin G. im Ausschuss. Die Befragung erwies sich als ähnlich unfruchtbar wie G.s Vernehmung 2013 im NSU-Prozess. Dort war es besonders um zwei Telefonate gegangen, die Benjamin G. am Tag des Kasseler Mordes mit seinem V-Mann-Führer Andreas T. geführt hatte. Minuten, bevor Geheimdienstler T. ins Internetcafé aufgebrochen war, hatte er ein mehr als elfminütiges Gespräch mit seinem V-Mann geführt. Da seine Gespräche vor dem Mord noch nicht abgehört wurden, ist der Inhalt des Telefonats - anders als die Verbindungsdaten - nicht überliefert.
Im NSU-Prozess dazu befragt, behauptete Benjamin G., beim Anruf sei es um die Absprache des nächsten Treffens gegangen. Des Richters Hinweis, ein elf Minuten und 18 Sekunden dauerndes Gespräch scheine zum Abstimmen einer Verabredung zu lang, blieb im Raum stehen. Nicht erörtert wurde, dass Andreas T. und sein V-Mann Benjamin G. auch an den Tagen des sechsten und des siebten Ceska-Mordes, die 2005 in Nürnberg und in München stattfanden, Telefonate geplant oder geführt hatten.
Allerdings machte Benjamin G.s Befragung am Oberlandesgericht München eines klar: Der hessische V-Mann war dem NSU-Umfeld sehr nahe gekommen. 2001 hatte er an einer rechtsextremen Demo in Eisenach teilgenommen, bei der die Polizei auch ihn wegen Skandierens von SS-Losungen festnahm. Als Anheizer der Sprechchöre war Patrick Wieschke aufgetreten. Dieser hatte etwa zur selben Zeit mit dem geständigen NSU-Unterstützer Carsten S. in Thüringen die NPD-Nachwuchsorganisation Junge Nationaldemokraten (JN) geleitet. Carsten S. ist mit Beate Zschäpe Angeklagter im NSU-Prozess. Er soll dem Trio die schallgedämmte Mordwaffe überbracht haben. Sein damaliger JN-Co-Vorsitzender, Patrick Wieschke, richtete 2006 in Oberweißbach, dem Heimatort der 2007 in Heilbronn mutmaßlich vom NSU ermordeten Polizistin, eine rechtsextreme Veranstaltung aus. Im Nachhall des mutmaßlichen Suizids von Mundlos und Böhnhardt 2011 in Eisenach verfolgte die Polizei zudem per Fährtenhund eine Spur Zschäpes bis vor Wieschkes Wohnung, nachdem ein Hinweis eingegangen war, sie habe dort genächtigt.
Gegenüber "Freie Presse" räumte Wieschke ein, Zschäpe zu kennen; im November 2011 übernachten lassen habe er sie nicht. Wieschke stieg später zeitweise zum Bundesorganisationsleiter der NPD auf.
Was suchte der Auslandsgeheimdienst BND in Thüringen?
Interessant ist der Draht, den der Kasseler V-Mann Benjamin G. ins Thüringer NSU-Umfeld hatte, weil dies nicht die einzige Verbindung war, die aus dem Bundesland Hessen in die Heimat der Terroristen reichte. Hinzu kommt die hauptamtliche Geheimdienst-Connection. Diese reicht zurück bis zu den Anfängen des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz, das von Kräften aus Hessen aufgebaut wurde. Die Verbindung ist älter als der NSU, älter sogar als der "Thüringer Heimatschutz" (THS), jenes Neonazi-Sammelbecken, in dem der NSU entstand. Sie stammt aus der Zeit, als sich die Neonazi-Kameradschaften um den späteren THS-Chef und V-Mann Tino Brandt noch "Anti-Antifa Ostthüringen" nannten. In Ermangelung von Ausländern im ostdeutschen Bundesland definierten sie so gleich den Hauptfeind: antifaschistische Linke und Altkommunisten.
Zum Aufbau des Thüringer Verfassungsschutzes seit den frühen 90er-Jahren kamen Geheimdienstler vom hessischen Verfassungsschutz gleich in ganzen Seilschaften nach Thüringen. Die Liste der Namen, die Zeugen den beiden ersten NSU-Untersuchungsausschüssen von Bundestag und Thüringer Landtag nannten, steht in den Schlussberichten. Sie umfasst rund ein Dutzend Hessen-Exporte nach Thüringen: die V-Mann-Führer Norbert Wießner, Jürgen Zweigert und Reiner Bode sind da, Auswerter Schirrmacher, und die in ihrer Funktion nicht näher beschriebenen Herren Schmidt, Masopust, Kimmel, Schrader und Hoffmann sowie Peter Nocken, der im Thüringer Landesamt zum Vizepräsidenten aufstieg.
Überhaupt tummelten sich im Nachwende-Thüringen auffallend viele "Dienste". Im Zuge der sogenannten "Operation Rennsteig" gingen Thüringens Landesamt, das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und das Bayerische Landesamt im rechtsextremen THS auf V-Mann-Werbung. Die "Operation Rennsteig" und die ähnlichen späteren Aktionen "Zafira" und "Treibgut" kamen nachträglich zu unverhoffter Prominenz, als nach Auffliegen des NSU 2011 im Bundesamt diesbezügliche Akten vernichtet wurden. Der als Schredder-Aktion "Konfetti" bekannt gewordene Vorgang zwang BfV-Chef Heinz Fromm 2012 zum Rücktritt. In den vernichteten Akten ging es um angeworbene V-Leute, wie man aus wiederhergestellten Teilen weiß.
Ob auch "durch den BND seit 1990 Mitglieder rechtsextremer Strukturen, insbes. der Anti-Antifa Ostthüringen, des THS oder diesem nahestehender Kameradschaften, als Quellen geführt" wurden? Diese Frage stellte sich Thüringens Untersuchungsausschuss und wollte es vom Auslandsnachrichtendienst selbst wissen. Das Antwortschreiben des BND ist im Schlussbericht des Ausschusses nur erwähnt - es ist als "Verschlusssache" eingestuft, also erst nach 30 Jahren freigegeben.
Hintergrund der Anfrage war eine merkwürdige Präsenz des deutschen Auslandsgeheimdienstes BND sowohl zur Geburtsstunde der rechten Szene Thüringens als auch beim Paukenschlag-Finale des NSU im November 2011 in Eisenach.
"Mundlos und Böhnhardt liegen erschossen im Wohnmobil und die Polizisten am Tatort sprechen von ‚den Diensten‘, die ihnen bei den Ermittlungen auf den Füßen stehen - der Militärische Abschirmdienst MAD und der BND." Das sagte 2012 der Thüringer Oppositionsführer, heute Regierungschef, Bodo Ramelow den "Stuttgarter Nachrichten" in einem Interview, das er bis heute auf seiner Webseite bereitstellt. Einen Einfluss des BND könne er nicht belegen, doch vermute er eine "ordnende Hand" hinter all dem scheinbaren Staatsversagen.
Tatsächlich fand der Thüringer Untersuchungsausschuss heraus, dass der Auslandsgeheimdienst zur Zeit der Unterwanderung der rechten Szene nicht nur in Thüringen aktiv, sondern dort sogar mit einer Niederlassung vertreten war. Ob der aus Hessen gekommene Verfassungsschützer Peter Nocken als Tür-Öffner fungierte, ist nicht überliefert. Fakt ist: Als Zeuge im Ausschuss erwähnte Nocken persönliche BND-Kontakte. Solche, die über Dienstbesuche hinausgingen, die er mit einem der V-Mann-Führer von Thüringen aus unternahm, um sich vom BND in der Kunst der Gründung von Tarnfirmen unterweisen zu lassen. Nocken räumte auch private BND-Kontakte ein. Die stammten noch aus seiner Zeit in Hessen, so der Zeuge. Wie es zu privaten Verbindungen eines hessischen Verfassungsschützers zum Auslandsgeheimdienst mit Sitz im bayerischen Pullach kam, blieb unerörtert. Immerhin unterhält der BND einen Standort in Hessen. Auch in Mainz, gleich neben der hessischen Hauptstadt Wiesbaden, ist er ansässig. Dort liegt die streng geheime Verbindungsstelle 61, die Kontakte zu ausländischen Partnern, etwa zum US-Geheimdienst CIA, pflegt.
Im Zusammenhang mit Rechtsextremismus sei der BND in Thüringen nie eingebunden worden, betonte Peter Nocken im Untersuchungsausschuss kategorisch. Das stimmte nicht, wie man später anhand von Akten aus dem Staatsarchiv herausfand. Diese belegten für die Mitte der 90er-Jahre "regelmäßige Treffen des Bundesnachrichtendienstes, des Militärischen Abschirmdienstes, des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz, des Thüringer Innenministeriums, des Bundesgrenzschutzes sowie des Thüringer Landeskriminalamtes", so der Schlussbericht des Ausschusses. Nach dem Salami-Taktik-Prinzip logen offenbar noch weitere Zeugen. "Bis zur Einsicht in die entsprechenden Akten wurden von angehörten Zeug(inn)en entsprechende Treffen immer wieder verneint, sodass der entsprechende Vorhalt aus den Akten zu den Zeugenanhörungen nicht möglich war", beklagte der Ausschuss im Schlussbericht.
Keine Einbindung des BND in Sachen Rechtsextremismus, wie Nocken gesagt hatte? Von wegen. Sogar an Treffen der Landeskoordinierungsgruppe Terrorismus/Extremismus hatten BND-Leute teilgenommen. Das zeigten Protokolle des Gremiums, in dem die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft, LKA und Landesamt für Verfassungsschutz zusammenkamen - und eben auch BND und MAD. Ob bei diesen Treffen Informationen zum NSU-Trio oder zum "Thüringer Heimatschutz" weitergegeben wurden, sei aufgrund der Vernichtung von Teilen der Akten nicht mehr nachvollziehbar, beklagte der Ausschuss.
Sehr wohl nachvollziehbar war für den nach seinem Vorsitzenden Sebastian Edathy benannten Ausschuss des Bundestages hingegen, dass der BND ab dem Untertauchen des NSU-Trios prompt über Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe informiert worden war. Am 5. März 1998, rund einen Monat, nachdem die drei wegen der Garagen-Razzia vom 26. Januar abgetaucht waren, bedankte sich der BND bei LKA und LfV Thüringen fürs Übermitteln "detaillierter Auskünfte" zur Aushebung der "Bombenwerkstatt in Jena". Man habe keine eigenen Erkenntnisse zu Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, doch bestehe "grundsätzliches Interesse an Informationen über Verbindungen deutscher Rechtsextremisten ins Ausland". So zitierte der Edathy-Ausschuss in seinem Bericht das BND-Schreiben. Vorangegangen waren Mutmaßungen Thüringer Verfassungsschützer, das Trio könne Hilfe bei ausländischen Rechtsextremisten suchen.
Wie man jetzt weiß, hegten Mundlos und Böhnhardt im Chemnitzer Untergrund in der Tat Pläne, sich ins Ausland abzusetzen. Vorgesehenes Ziel war das Anwesen des in Südafrika lebenden Rechtsextremisten Claus Nordbruch. Dort absolvierten andere "Heimatschutz"-Mitglieder wie V-Mann und THS-Chef Tino Brandt 1999 Schießtrainings. Die große Frage sei, orakelte Bodo Ramelow kurz nach Auffliegen des NSU, ob die Täter gar nicht, wie damals aus vielerlei Gründen vermutet wurde, vom Thüringer Verfassungsschutz angeworben wurden, sondern vom BND. Vielleicht habe der versucht, "internationale Söldner-Strukturen auszukundschaften", mutmaßte Ramelow.
Ein Dementi gab es nicht. Was es im Zuge der parlamentarischen Aufklärung gab, war eine Bezichtigung. Als bekannt wurde, dass das Thüringer Innenministerium erwog, dem Thüringer Untersuchungsausschuss und dem Edathy-Ausschuss 1400 Seiten an Akten mit Geheimhaltungsgrad "ungeschwärzt" zur Verfügung zu stellen, schritten die "Dienste" ein. Das Bundesamt für Verfassungsschutz fragte, ob zuvor ein Freigabeverfahren erfolge, falls in den Geheimakten auch Informationen anderer Dienste enthalten seien. Das Thüringer Innenministerium lehnte solch ein Jahre währendes Verfahren ab. Effektiver Aufklärung stehe dies im Wege. Für diese Sichtweise wurde das Thüringer Innenministerium vom Verfassungsschutzverbund, allen voran vom BfV, bezichtigt - des Landesverrats.
Wieso log Andreas T. zu dem unbekannten Ort, an dem er das Schießen auf Menschen übte?
Dem Disput folgte ein Brief des Vorsitzenden der Innenministerkonferenz, Lorenz Caffier. Der schlug dem Thüringer Ausschuss einen Kompromiss vor. Ein Sonderermittler solle die vorzulegenden Akten vorher sichten und Heikles aussortieren. Dieses Vorgehen sei "aus operativen Geheimschutzgründen, zur Wahrung der Grundrechte Dritter, insbesondere der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Behörden, und zur Wahrung der Rechte ausländischer Dienste (…)" unumgänglich, schrieb Caffier. Die mit Punkten gekennzeichnete Auslassung aus dem Brief nahm der Ausschuss vor, als er das Papier im Schlussbericht zitierte. Ein Großteil der Geheimakten wurde dennoch ohne Vorsortierer übergeben. Der Thüringer Ausschuss begrüßte das "klare Bekenntnis der Landesregierung zu transparenter Aufklärung". Was die Innenministerkonferenz mit den nicht näher genannten Rechten "ausländischer Dienste (...)" andeutete, ist unklar.
Zurück nach Hessen - auch am anderen Ende der NSU-Aufklärung, gibt es viele Unklarheiten. Ismael Yozgat, der Vater des Ermordeten Halit Yozgat, warf im NSU-Prozess Ermittlern und Behörden vor, zu verschleiern statt zur Wahrheitsfindung beizutragen. Zur Aufklärung gehöre die Freigabe der 37 Aktenordner über Geheimdienstler Andreas T. Einem Antrag der Opferanwälte, die Akten für den Prozess anzufordern, kam das Gericht nicht nach.
Eine drängende Frage ergibt sich aus Fotos, die einst auf T.s Computer beschlagnahmt wurden. Die Bilder zeigen Schützen auf einer Art Schießstand. In T.s Schützenverein sind die Fotos nicht aufgenommen worden. Dazu befragt, erklärte der Geheimdienstler, er habe auf Anregung eines Vereinskameraden an Großkaliber-Combat-Turnieren eines anderen Vereins teilgenommen. Combat-Schießen ist ein Kampftraining, bei dem man auf menschliche Silhouetten schießt. Der von T. benannte Vereinskamerad bestritt, die Bilder zu kennen. Er zweifelte sogar an, dass es sich bei dem Schießstand, den sie zeigen, um einen regulären Verein handele. Alle ansonsten üblichen Sicherheitsvorkehrungen fehlten. Wo die Combat-Schieß-Fotos des Geheimdienstlers entstanden, ist eine der offenen Fragen in Hessen. Bisher sei das im Untersuchungsausschuss nicht erörtert worden, teilte das Büro von NSU-Aufklärer Hermann Schaus der "Freien Presse" mit. Doch vernehme man T. erneut.
Die braune Seite der Siegermächte
Frankfurt. Ein Haus am Walde im hessischen Odenwald-Örtchen Waldmichelbach wurde 1952 Schauplatz einer Razzia. Hinter einer Garage in den Berg getrieben, lag ein Schacht mit einschusszerlöcherten Wänden. Die Villa "Haus Wagner" hatte einer paramilitärischen Miliz als Trainingszentrum gedient. Tage zuvor hatten sich Polizisten im Frankfurter Präsidium die Augen gerieben, als Hans Otto, ein Ex-SS-Hauptsturmführer, vorsprach und gestand, er sei Mitglied des "Technischen Dienstes" (TD) des 1950 gegründeten Bundes Deutscher Jugend. Der TD oder, wie er nach seinem Chef Erhard Peters auch genannt wurde "Organisation Peters", sei eine Partisanen-Miliz, die sich für den "Tag X" wappne. Griffen die Kommunisten die BRD an, sei man im Untergrundkampf unterwiesen. Der US-Geheimdienst finanziere alles. Das Trainingsprogramm: Sprengung, Nahkampf, Schießen. Zuerst habe man auf dem US-Stützpunkt Grafenwöhr trainiert, dann in der Villa. Ein Amerikaner mit dem Tarnnamen "Sterling Garwood" stelle Waffen und Munition. Bisher seien 100 Kämpfer ausgebildet. 7000 sollten es werden.
Als herauskam, dass der TD Listen von Personen führte, die im Angriffsfall "kalt zu stellen" seien, um sie "bolschewistischem Zugriff" zu entziehen, war man sprachlos, zumal unklar blieb, ob "kalt stellen" Internierung oder Mord bedeutete. Unter mehr als 200 Namen befanden sich hochrangige Politiker wie Herbert Wehner (SPD) und auch SPD-Chef Erich Ollenhauer. Mit Entnazifizierung hatte es die CIA bei TD-Rekruten nicht so genau genommen. SS-, Waffen-SS-, Gestapo-Leute gab es. Wie auch bei der ebenfalls US-finanzierten "Organisation Gehlen" (OG). Reinhard Gehlen hatte im Krieg Hitlers Feindaufklärung "Fremde Heere Ost" geleitet und baute ab 1945 für die Amerikaner einen bundesdeutschen Geheimdienst auf. 1956 wurde aus der OG der BND mit Gehlen als erstem Präsidenten.
1952 ließen hessische Behörden die Köpfe der TD-Miliz festnehmen. Doch Bundesbehörden zogen das Verfahren an sich. TD-Chef Peters floh in US-Gewahrsam. Auch die anderen TD-Funktionäre kamen wieder frei. Die Aufklärung durch eine einberufene Kommission lahmte. US-Stellen beschlagnahmten Akten. Orte, an denen die Partisanen Depots vergrabener Waffen angelegt hatten, wurden von der CIA kurzerhand unter US-Verwaltung gestellt - mit dem Argument der Exterritorialität (ausländisches Herrschaftsgebiet auf inländischem Boden wie der Status einer Botschaft). (eu)
BND-Mann 2012 unter Verdacht
Mainz. Ein Haus am Walde unweit dem hessischen Waldmichelbach war im September 2012 Ziel einer Razzia. "Aufgrund der bisherigen Ermittlungen ... besteht der Verdacht, dass sich der Beschuldigte größere Mengen an Schusswaffen, zu denen auch vollautomatische Schusswaffen zählen, beschafft hat und diese zu paramilitärischen Übungen einsetzt." So zitierte die "Zeit" den Durchsuchungsbeschluss, als der Fall im Jahr 2013 durchsickerte.
Es ging um einen BND-Mann, konkret den Leiter der Verbindungsstelle 61 in Mainz. Diese pflegt Kontakte zu ausländischen Diensten wie der CIA im benachbarten Wiesbaden. Nach internen Hinweisen, der BND-Stellen-Leiter falle mit rechtspopulistischen, islamfeindlichen Sätzen auf, gab es ein Disziplinarverfahren. Hinweisen auf im Wald vergrabene Waffenkisten und auf "Gleichgesinnte", die sich gegen islamische Unterwanderung wappneten, folgte die Strafanzeige. Am Tag der Erstveröffentlichung des Falls im "Spiegel" stellte die Staatsanwaltschaft Heidelberg die Ermittlungen ein. Trotz Observation habe man den Verdacht nicht "hinreichend" verifizieren können. Gefundene Waffen seien genehmigt. Ruhte während der Ermittlungen das Disziplinarverfahren, so nahm der BND es wieder auf. Zu Personalangelegenheiten gebe man aber generell keine Auskunft, sagte BND-Sprecher Martin Heinemann 2013 der "Freien Presse". Er betonte nur: "Als Sicherheitsbehörde sind wir natürlich angehalten, besonders aufzupassen." Der BND habe sich einen "Senioren-NSU zusammenfantasiert", konterte der Anwalt des beschuldigten und nach Pullach versetzten BND-Manns in der "Zeit".
Im Bundestag veranlasste der Fall die Linke zu einer Anfrage. Es werfe "mehr Fragen auf, als beantwortet werden", dass man die Ermittlungen am Tag des Bekanntwerdens einstelle. Die Fraktion fragte nach Kontakten des BND-Manns zu Beschuldigten im NSU-Verfahren. Antwort: "Hierzu hat die Bundesregierung keine Erkenntnisse." Auch wollte die Linke wissen, ob vermutete Waffen - laut Durchsuchungsbeschluss sollten vollautomatische darunter sein, die unters Kriegswaffenkontrollgesetz fallen - schlicht "nicht gefunden" wurden, oder ob es eine andere "Erklärung" gab, das Verfahren einzustellen. Angesichts angeblich vergrabener Waffen wie beim "Technischen Dienst", die die CIA 1952 flugs unter US-Verwaltung stellte (siehe Spalte links), lag die Frage nahe. Die Antwort der Bundesregierung ist Verschlusssache. Sie liegt im Geheimschutzraum des Bundestags. (eu)