m Gespräch: Hermann Schaus „Verfassungsschützer nicht zufällig am Ort“
Am Freitag vernimmt der NSU-Untersuchungsausschuss zwei Mitglieder der nordhessischen Neonazi-Szene als Zeugen. Hermann Schaus (Die Linke) hofft, dass die Hintergründe des Kasseler NSU-Mordes erhellt werden.
24.02.2016
www.faz.net/aktuell/rhein-main/im-gespraech-hermann-schaus-verfassungsschuetzer-nicht-zufaellig-am-ort-14087220.htmleit gut eineinhalb Jahren tagt der Untersuchungsausschuss des Landtags, der die Hintergründe des NSU-Mordes an dem Kasseler Internetcafébetreiber Halit Yozgat im Jahr 2006 erhellen soll. Was sind bisher die wichtigsten Erkenntnisse?
Wir haben eine Vielzahl von Detailinformationen zur Arbeit des Verfassungsschutzes in Hessen gewonnen, über den Einsatz von V-Leuten, über die Rolle des V-Mann-Führers Andreas Temme im Zusammenhang mit dem Kasseler Mord, über die Neonazi-Szene in Nordhessen und zur Rolle des damaligen Innenministers und heutigen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU), der die Vernehmung von V-Leuten durch die Polizei untersagt hat.
Am Freitag wird nun im Ausschuss der erste Zeuge aus der Neonazi-Szene vernommen: Benjamin G., ein ehemaliger V-Mann des ehemaligen Verfassungsschützers Temme, der zur Tatzeit oder jedenfalls unmittelbar davor am Tatort in Kassel war und sich anschließend nicht als Zeuge meldete. Was erwarten Sie sich von dieser Befragung?
Benjamin G. spielt eine zentrale Rolle, weil er am Tag des Mordes an Halit Yozgat zweimal mit Herrn Temme telefoniert hat. Das erste Mal gegen Mittag, ein kurzes Telefonat von 17 Sekunden, und dann 50 Minuten vor dem Mord, ein langes elfminütiges Telefonat. An beide konnten sich angeblich weder Temme noch G. im Nachhinein erinnern.
Sie hoffen, dass G. sich jetzt erinnern kann?
Das hoffe ich sehr. G. hat jetzt erstmals, anders als bei seinen bisherigen Vernehmungen beispielsweise beim NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München, eine umfassende Aussagegenehmigung des Landesamts für Verfassungsschutz. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man an ein Telefonat, das dermaßen aus dem Rahmen fällt, denn normalerweise telefonieren V-Mann-Führer mit ihren Informanten nur ganz kurz, keinerlei Erinnerung mehr hat.
Außer G. soll noch ein weiteres halbes Dutzend Neonazis vorgeladen werden, darunter ehemals führende Figuren der nordhessischen Neonaziszene. Haben Sie nicht die Befürchtung, dass die den Ausschuss zur Selbstdarstellung oder gar als Podium für die Verbreitung ihrer Propaganda benutzen könnten?
Nein. Wir als Linkspartei haben sehr lange überlegt und abgewogen, welche Zeugen der Ausschuss vernehmen sollte. In der Zwischenzeit ist die Vernehmung von Mitgliedern der rechtsextremen Szene auch bei den anderen NSU-Untersuchungsausschüssen in den Ländern und im Bundestag Standard. Wir haben dafür vorgesorgt, dass die Neonazis den hessischen Ausschuss nicht als Bühne nutzen können.
Wie beispielsweise?
Mit verschärften Einlasskontrollen und verstärkten Sicherheitsvorkehrungen im Saal. Für die Sitzung ist klargestellt: Wir fragen, die antworten. Nicht umgekehrt.
Glauben Sie, G. könnte am Freitag beispielsweise Interna über militante Neonazi-Strukturen in Nordhessen offenbaren oder konkrete Informationen zum Mordfall Yozgat preisgeben?
Von sich aus ganz sicher nicht. Wir werden ihn zu jedem Punkt mit Aussagen und Dokumenten konfrontieren und ihn immer wieder daran erinnern müssen, dass er im Ausschuss, wie vor Gericht, zur Wahrheit und zu einer vollständigen Aussage verpflichtet ist. Wenn er Kenntnisse zurückhält, macht er sich strafbar.
Die spannendste Frage ist natürlich, ob Geheimdienstmann Temme möglicherweise in den Mord oder die Planungen dafür verwickelt war.
Es ist aktenmäßig nachgewiesen, dass sich Herr Temme zur Tatzeit am Tatort, im Internetcafé von Herrn Yozgat, aufgehalten hat und dass er dienstlich zwei Wochen zuvor angewiesen worden war, seine V-Leute zur Ceska-Mordserie - von NSU-Morden war damals noch nicht die Rede - zu befragen. Im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags und auch bei seinem ersten Auftritt als Zeuge im Ausschuss des Hessischen Landtags hat Temme das aber abgestritten.
Temme behauptet, er sei rein zufällig am Tatort gewesen und habe von den tödlichen Schüssen nichts mitbekommen.
Wir haben noch keine Belege, aber ich gehe davon aus, dass Herr Temme dienstlich in dem Internetcafé war und nicht zufällig und privat.
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Wenn der Verfassungsschützer nicht zufällig am Tatort war, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Er war im Auftrag seines Arbeitgebers dort oder weil er in Verbindung mit den Tätern stand.
Genau das wollen wir herausfinden. Eine äußerst schwierige Aufgabe.
Manche Beobachter spekulieren sogar, der Verfassungsschutz habe im Fall Yozgat eine aktive Rolle gespielt.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich eine Behörde aktiv an Mordvorbereitungen beteiligt; auch nicht das von uns heftig kritisierte Landesamt für Verfassungsschutz. Aber ich glaube schon, dass dem hessischen Geheimdienst Informationen vorgelegen haben, mit denen sich möglicherweise ein Mord hätte verhindern lassen. Die sind falsch bewertet worden, und jetzt versucht man, diese Fehlleistungen zu vertuschen.
Wie beurteilen Sie die Tatsache, dass der damalige Innenminister Bouffier (CDU) eine Aussagegenehmigung für von Temme geführte V-Leute verweigerte?
Es ist mittlerweile klar, dass Herr Bouffier in dieser Sache ganz allein entschieden hat; sogar entgegen einer Vereinbarung, die der seinerzeitige Präsident des Landesamts für Verfassungsschutz mit dem Generalstaatsanwalt getroffen hatte.
Aber gestützt durch ein Gutachten des Bundesamts für Verfassungsschutz.
Ja. Aber wir wissen inzwischen durch die Aussage des ehemaligen Präsidenten dieser Behörde, Heinz Fromm, dass der Verfasser des von Herrn Bouffier angeforderten Gutachtens zu diesem Zeitpunkt schon als künftiger Präsident des Hessischen Verfassungsschutzes auserkoren war. Da liegt doch der Gedanke nahe, dass es sich um ein Gefälligkeitsgutachten handelte.
Bouffier begründet die Verweigerung einer Aussagegenehmigung mit dem Argument, insbesondere die Informanten des Verfassungsschutzes in der Islamistenszene seien zu wichtig gewesen, als dass ihre Identität hätte öffentlich bekanntwerden dürfen.
Dann hätte es doch nahegelegen, wenigstens die V-Leute aus der Neonazi-Szene, beispielsweise Herrn G., befragen zu lassen und die aus der Islamistenszene nicht. Ein solches Angebot hat es aber nie gegeben.
Die Polizei wiederum hat offenbar ihre Möglichkeit nicht genutzt, die ihr namentlich bekannten Informanten des Verfassungsschutzes aus eigener Initiative heraus zu vernehmen.
Das ist richtig, und das bedauern wir sehr. Aber das liegt daran, dass in der damaligen Situation sowohl auf die Polizei als auch auf den ermittelnden Staatsanwalt indirekt so viel politischer Druck aus dem Innenministerium ausgeübt wurde, dass die gar nicht mehr gewagt haben, eigenständig zu handeln.
Die Linkspartei hält den Verfassungsschutz für überflüssig. Haben Ihre Erfahrungen im Untersuchungsausschuss Sie in dieser Einschätzung bestätigt?
Eindeutig. Wir haben von den als Zeugen und Sachverständige aufgetretenen Mitarbeitern des Verfassungsschutzes nur einen einzigen erlebt, der selbstkritisch und kompetent berichtet hat. Ansonsten teilen wir die Auffassung, die die ehemalige stellvertretende Präsidentin des Landesamts für Verfassungsschutz, Catrin Rieband, im Ausschuss geäußert hat: Damals zumindest, im Jahr 2006, war das Landesamt für Verfassungsschutz auch im Vergleich mit anderen Landesämtern rückständig, man lebte gedanklich noch in einer anderen Welt und hat vorsintflutlich gearbeitet. Es gab es ja noch nicht einmal ordentliche Computer.
Aus dieser Tatsache könnte man den Schluss ziehen, der Verfassungsschutz müsse aufgerüstet werden. Aber Sie meinen, dass sich der internationale Terrorismus und der gerade aus Sicht Ihrer Partei doch so sehr unterschätzte Rechtsextremismus auch ohne Geheimdienstarbeit effektiv bekämpfen ließe?
Wir wollen den Verfassungsschutz zu einem öffentlich arbeitenden Informations- und Dokumentationszentrum umgestalten und vor allem das V-Leute-System abschaffen. Die Arbeit des Geheimdienstes baut auf Informanten auf, die Straftäter sind, beispielsweise Neonazis, und die können den Verfassungsschutz mit ihren Informationen manipulieren. Eine Behörde, wie wir sie uns vorstellen, die einen sie kontrollierenden Beirat aus gesellschaftlichen Gruppen hätte, die öffentlich und wissenschaftlich arbeiten würde, das wäre ein anderes Thema.