Die RAF ist tot. Es lebe die Antifa?
Am Anfang der Roten Armee Fraktion (RAF) stand vor 50 Jahren die Befreiung von Andreas Baader aus dem Gefängnis. Was mit Revolutionsromantik begann, hielt die BRD jahrzehntelang in Atem. Linksradikalen Terror gibt es bis heute. Gastkommentar von Bettina Röhl
Wer war damals in den siebziger Jahren im Fieber? War es die RAF? Waren es die bundesdeutschen Behörden und Politiker? Waren die Medien überhitzt? War es die Gesellschaft, das Establishment, das den Terroristen hinterherlief? Oder waren es die im Rahmen der Ereignisse um 1968 aufgewachten Studenten- und Schülerheere in den siebziger Jahren, die der RAF den roten Teppich im veröffentlichten Raum immer wieder neu ausrollten?
Es gab damals in der Bundesrepublik die grosse schweigende Mehrheit, die nicht auf der Seite der 68er-Bewegung oder gar auf der Seite der RAF, des bewaffneten Kampfes in der Bundesrepublik, stand. Die überwältigende Mehrheit der Bürger, vor allen Dingen die arbeitende Bevölkerung, fühlte sich von Terror und Gewalt, von Stadtguerilla und Revolution wenig angezogen und schaute irritiert und auch ein wenig paralysiert auf das Modephänomen «Terrorismus»: «High sein, frei sein, ein bisschen Terror muss dabei sein.» Die schweigende Mehrheit, das waren in den Augen der jungen pop-kommunistisch Bewegten, die sich an Che Guevara, an Ho Chi Minh und ganz besonders an Mao Zedong als revolutionärem Umwälzer orientierten, allerdings die «Spiesser», die es zu bekämpfen galt.
Besonders die sogenannten Linksintellektuellen, Subkulturelle und etablierte Künstler, vom Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger bis zum Rechtsanwalt und Sänger Klaus Degenhardt, vom Theaterintendanten Claus Peymann bis zum Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll, wurden sehr schnell zu allenfalls semikritischen Verbreitern der 68er-RAF-Ideologie. Sie waren damals mit ihrer Meinung allgegenwärtig, besonders in den Boom-Medien mit Millionenauflage wie dem «Spiegel», dem «Stern» und der «Zeit», aber auch in den mächtigen öffentlichrechtlichen Fernsehsendern. Auch viele Journalisten wurden zu gierigen, distanzlosen Berichterstattern der RAF. Zugleich funktionierten Reportagen über die RAF fast wie eine True-Crime-Serie, die dem Publikum Taten, Täter und Tote beinahe in Echtzeit präsentierten.
Das Revolutionsphantasma
Die RAF-Sympathisanten reklamierten eine Impulsgeberfunktion – das Wachrütteln der Menschen – für ihre Helden. Von diesen sollte der Anstoss zur fälligen Revolution gegen den Kapitalismus und gegen die Ausbeutung der Dritten Welt kommen. Es lag ein revolutionärer Zeitgeist in der Luft, es gab ein Revolutionsphantasma, dem ganze Gesellschaftsschichten weltweit hinterherjagten.
Das diffuse Vorbild waren die kommunistischen Diktaturen in China, Nordkorea, Nordvietnam und in Kuba, die von der Neuen Linken als bessere Länder auf dem richtigen Weg zum besten Kommunismus verklärt wurden. Man denke nur an Luise Rinsers Hymne auf Nordkorea. Oder an die Jubelbücher vieler Schriftsteller, zum Beispiel Alberto Moravia, die Anfang der siebziger Jahre China besuchten. Sie schwärmten von den Millionen von Jugendlichen, den Roten Garden, die, alle mit dem gleichen blauen Anzug bekleidet, ein kleines rotes Büchlein von Mao hin und her schwenkten.
Immer weniger galt diesen Revolutionsromantikern die Sowjetunion, die als bürokratisch und «revisionistisch» angesehen wurde. Was nicht hiess, dass die RAF und viele andere bundesdeutsche Linke die DDR und den Ostblock nicht gerne als logistische Hilfslieferanten in Anspruch nahmen. Nicht zu vergessen das Heer der Stasi-Agenten in Westdeutschland sowie die Tatsache, dass die RAF-Mitglieder die DDR von Beginn an jederzeit als Hinterland nutzen konnten, inklusive des Ostberliner Flughafens.
Die RAF setzte seit ihrer Gründung, die im Wesentlichen Horst Mahler zuzuschreiben ist (meine Vermutung ist, dass er hierbei im Auftrag der DDR gehandelt haben könnte), auf ein Prinzip der erfahrenen Journalistin Ulrike Meinhof: ein Terrorist, ein Gesicht, eine Person, ein handelnder Mensch, der in Bild, Ton, Schrift mit seiner Biografie und mit seinen Taten, die er begeht, sofort in die Presse kommt. Also eine Art öffentlicher Terrorismus mit Bekennerschreiben.
Die Baader-Meinhof-Kombo spielte also strukturell auf das von anderen Terrorgruppen vermiedene Ziel hin, in den Wohnzimmern der Menschen und in den Nachrichtensendungen ein persönlicher Faktor zu werden. Und das galt von Beginn an mit ihrer ersten Aktion, als am 14. Mai 1970 die sich auf den Terror vorbereitende Baader-Meinhof-Truppe den Gefängnisausbruch von Andreas Baader organisierte, der wegen Kaufhausbrandstiftung einsass. Es kam zu einer Schiesserei, bei der ein von der Gruppe gedungener Pistolero einen Angestellten lebensgefährlich anschoss, auch zwei Polizisten wurden verletzt. Fast alle Akteure waren bei diesem notorisch «Baader-Befreiung» genannten Überfall dabei; fast alle Mitglieder der sich jetzt formierenden RAF waren bewaffnet.
Der mediale Coup
Das erste Fahndungsplakat nach dieser Aktion, das in ganz Berlin an den Litfasssäulen ausgehängt wurde, zeigte das Konterfei von «Ulrike Meinhof geschiedene Röhl», mit den Worten: «10 000 Mark Belohnung. Mordversuch.» Dabei hatte Meinhof gar nicht geschossen. Sie war allerdings die Prominenteste innerhalb der Gruppe.
Baaders Gefängnisausbruch gelang. Trotzdem fehlte noch das revolutionäre Moment, eine «sinnvolle» Erklärung. Und dann gelang Ulrike Meinhof der Coup, der mediale Durchbruch: Sie überredete die französische Aktivistin Michèle Ray, nach Berlin in eine der vorbereiteten konspirativen Wohnungen zu kommen, und übergab ihr einen Tonbandmitschnitt mit einer von Meinhof selbst gesprochenen Erklärung zur Baader-Aktion. Ray übergab das Dokument dann persönlich Rudolf Augstein, und der «Spiegel»-Herausgeber war wahnsinnig genug, dieses kryptische Produkt aus dem «Untergrund» Wort für Wort in einer Millionenauflage abzudrucken – fast so, als hätten Meinhof und die RAF eine Art Regierungserklärung abgegeben.
Unter dem Titel «Natürlich kann geschossen werden» erklärte Ulrike Meinhof die Baader-Aktion für eine revolutionäre Tat und forderte die linken «Intellektuellen» und andere «Genossen» dazu auf, sich der Revolution, die jetzt begonnen habe, anzuschliessen. Mit diesem medialen Durchbruch war aus einer mickrigen Baader-Aktion in der Tat ein revolutionärer Akt geworden, der durch den «Spiegel» in die Mitte der Gesellschaft getragen wurde. Von da an stieg der Bekanntheitsgrad der Baader-Meinhof-Ensslin-Mahler-Truppe ins Exponentielle, bis es erst in den 2010er Jahren ruhiger um die RAF wurde.
Die RAF war von Beginn an ein Sujet, das in den letzten fünf Jahrzehnten den Stoff für Tausende von Artikeln, Büchern, Dokumentar- und Spielfilmen, Dissertationen, Romanen, Theaterstücken geliefert hat. Nichts scheint heute so tot zu sein wie die RAF. Tatsächlich hat es der blühende Linksradikalismus im Westen, der bei der Eröffnung der EZB-Zentrale in Frankfurt, bei jedem G-20-Gipfel oder alljährlich am 1. Mai in Berlin brutal zuschlägt, zu höchster Etablierung im Staat gebracht, nicht zuletzt dank der Unterstützung durch nicht wenige Abgeordnete einiger politischer Parteien, durch Journalisten und einschlägige Experten.
Der militanten Antifa fehlen im Vergleich zur RAF nur die prominenten Gesichter. Sie pflegt aus Feigheit die Praxis, ihre Gesichter zu vermummen und ihre Namen geheim zu halten. Was sich oft Antifa nennt, droht ununterbrochen mit Gewalt und Anschlägen etwa gegen Politiker oder Polizisten, sie steht für sinnlose Sachbeschädigungen in enormer Höhe. Gleichwohl monierte die ehemalige Bundesministerin Renate Künast (Grüne) jüngst im Bundestag, dass die Antifa in den letzten Jahrzehnten nicht ausreichend vom Staat finanziert worden sei. Sie sei es leid, seit Jahrzehnten dafür zu kämpfen, «dass NGO und Antifa-Gruppen, die sich engagieren, nicht immer um ihr Geld ringen müssen und nur auf ein Jahr befristete Arbeitsverträge abschliessen können». Dafür gab es Beifall von Bündnis 90 / Die Grünen, von der Linken und von Abgeordneten der SPD. Man darf die Frage stellen, ob die Antifa so etwas ist wie eine verbeamtete RAF, eine Terrorgruppe mit Geld vom Staat unter dem Deckmantel «Kampf gegen rechts».
Bettina Röhl, Historikerin und Publizistin, setzte sich in ihren Büchern «So macht Kommunismus Spass!» (2006) und «Die RAF hat euch lieb» (beide erschienen im Heyne-Verlag) mit der linken Geschichte der Bundesrepublik sowie mit ihrer Mutter Ulrike Meinhof historisch-kritisch auseinander.
www.nzz.ch/meinung/die-raf-ist-tot-es-lebe-die-antifa-ld.1558667