www.deutschlandradiokultur.de/halit-yozgat-schwierige-aufarbeitung-des-kasseler-nsu-mordes.1001.de.html?dram:article_id=375396Länderreport | Beitrag vom 03.01.2017
Halit Yozgat - Schwierige Aufarbeitung des Kasseler NSU-MordesVon Ludger Fittkau
Gut 100 Zeugen und 1500 Aktenstücke. Dazu ein ehemaliger Verfassungsschützer, der sehr wahrscheinlich lügt und eine Landesregierung, der vorgeworfen wird, die Aufklärung des Mordes an dem 21-jährigen Internetcafébesitzer Halit Yozgat zu erschweren. Kann der NSU-Untersuchungsausschuss in Hessen die Wahrheit ans Licht bringen?
Die Holländische Straße in Kassel. Eine vielbefahrene Hauptverkehrsachse, in der Fahrbahnmitte gleiten Straßenbahnen auf einer eigenen, rasenbedeckten Trasse. Am Straßenrand – ein mehrstöckiges gelbes Ziegelgebäude in einer Altbau-Häuserzeile, im Erdgeschoss ein kleines Ladenlokal.
Am 6. April 2006 steht der damals 21 Jahre alte Halit Yozgat hinter dem Tresen des Internet-Cafés, das er hier mit Unterstützung seiner Familie betreibt. Der Jung-Unternehmer wartet in seinem Ladenlokal auf seinen Vater Ismail, der ihn schon vor einiger Zeit ablösen sollte. Doch noch bevor der Vater das Internet-Café betritt, werden im Laden zwei tödliche Pistolenschüsse auf Halit Yozgat abgegeben. Der junge Ladenbetreiber ist das neunte Mordopfer des "Nationalsozialistischen Untergrunds" – kurz NSU.
Mit erstickender Stimme schildert sein Vater Ismail Yozgat später in Berlin in seiner Muttersprache, in der er sich sicherer fühlt bei einer Gedenkveranstaltung, dass er den sterbenden Sohn hinter dem Tresen seines Ladens gefunden hat:
"Meine Damen und Herren, Exzellenzen. Ich möchte sie alle herzlich begrüßen, vor allem unsere Bundeskanzlerin, Frau Angela Merkel. Ich bin Ismail Yozgat. Mein Sohn starb in meinen Armen am 6.4.2006 in dem Internet-Café, wo er erschossen wurde."
Im Frühjahr 2016 treffen sich genau zehn Jahre nach dem Mord an Halit Yozgat einige hundert Menschen in der Nähe des Tatortes in der Holländischen Straße in Kassel. Ismail Yozgat appelliert noch einmal an die Behörden nicht nachzulassen, bis die genauen Umstände des Mordes an seinem Sohn aufgeklärt sind.
"Wir werden bis zum Ende unseres Lebens darauf warten, dass dieses Problem gelöst wird. So gelöst wird, dass die Täter gefasst werden – die Hintermänner."
Die Eltern des ermordeten Halit Yozgat, Ayse und Ismael, 2016 bei der Gedenkfeier zehn Jahre nach der Ermordung von Halit Yozgat in Kassel (picture alliance/ dpa / Swen Pförtner)
Nicht zuletzt, weil man sich der Familie Yozgat verpflichtet fühlt, arbeitet seit zweieinhalb Jahren ein Untersuchungsausschuss des hessischen Landtages akribisch daran, die Hintergründe des Kasseler NSU-Mordes aufzuklären. Der Sozialdemokrat Günter Rudolph ist stellvertretender Vorsitzender des Gremiums.
"Ich stamme selbst aus Nordhessen, ich kenne den Tatort. Also insofern eine besondere Herausforderung. Und dieses Verbrechen in Kassel hat ja noch die Besonderheit, dass dort ein Mitglied des damaligen Landesamtes für Verfassungsschutz anwesend war. Fast zur Tatzeit. Das unterscheidet den neunten Mordfall in Kassel noch einmal zusätzlich von den anderen acht Mordfällen. Das ist eine Besonderheit.
Und hier geht es natürlich auch darum, das ist der Untersuchungsauftrag, aufzuklären, wie haben die Sicherheitsbehörden gearbeitet. Und der zweite Schritt, was kann man aus dem Versagen der Sicherheitsbehörden für Konsequenzen ziehen, damit ein solcher Vorgang sich nie wiederholt."
Andreas Temme vom damaligen Landesamt für Verfassungsschutz als Schlüsselfigur
Andreas Temme. Der Name einer Schlüsselfigur der Ereignisse rund um den Kasseler NSU-Mord. Eigentlich ist es Temmes Aufgabe, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen. Dazu soll er "Informationen über Bestrebungen sammeln", die diese Grundordnung gefährden. So lautet der offizielle Auftrag seiner Behörde – dem hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz.
Zu diesem Zweck führt Andreas Temme 2006 in Kassel mehrere V-Leute, die sein Amt sowohl in der rechtsradikalen als auch in der islamistischen Szene der Stadt angeworben hat. Auch an dem Tag, an dem Halit Yozgat vom NSU ermordet wird und Temme, – wie er sagt zufällig – am Tatort war, hat der Verfassungsschutzbeamte längeren telefonischen Kontakt zu einer seiner "Quellen" aus der rechtsextremen Szene. Holger Bellino, CDU-Obmann im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss.
"Temme ist, wenn ich das so sagen darf, eine dubiose Figur. Was mich sehr an ihm stört ist, dass er sich nicht sofort gemeldet hat. Er war Zeuge eines Mordes oder, wenn er nicht Zeuge war, dann hat er später davon erfahren, dass an dem Ort, wo er wenige Sekunden vorher noch war, ein schlimmer Mord passiert ist. Und da erwarte ich von jedem Menschen, unabhängig davon, ob der beim Landesamt für Verfassungsschutz oder woanders arbeitet, dass er sich dann meldet."
Andreas Temme meldet sich jedoch nicht bei der Polizei. Er verneint, als er von einem Kollegen aus dem hessischen Landesamt für Verfassungsschutz gefragt wird, ob er den Tatort in der Holländischen Straße kenne. Später muss er zugeben, dass das eine Lüge war. Doch Andreas Temme bestreitet bis heute, dass er irgendwas vom Mord an Halit Yozgat mitbekommen hat.
Hermann Schaus ist einer der Abgeordneten der Linkspartei im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss. Er glaubt nicht, dass die Wahrheit noch irgendwann ans Licht kommen wird.
"Also – zu 100 Prozent bleibt es unklar, solange Herr Temme bei seiner Version bleibt. Und da gehe ich davon aus. Das hat er jetzt in fünf Vernehmungen in München, im NSU-Prozess, in zwei Vernehmungen hier im Untersuchungsausschuss, in einer Vernehmung im Bundestagsuntersuchungsausschuss. Immer wieder seine Version, er hat nichts gesehen und er hat nichts mitbekommen.
Wir wissen aber Dank der akribischen Polizeiarbeit – und bei Computern kann man ja auf die Sekunde genau recherchieren, wann sind die angemacht worden, wann sind die ausgemacht worden und wann war der Todeszeitpunkt, wann exakt ist Halit Yozgat erschossen worden – und danach steht fest, für mich steht das fest und aus den Akten ergibt sich das, dass Herr Temme im Internet-Café war und erst nachdem die Todesschüsse gefallen sind, seinen Rechner runtergefahren hat. Exakt zehn Sekunden danach."
Temme müsse also den verletzten Halit Yozgat gesehen haben, da ist sich Hermann Schaus sicher. Sein CDU-Ausschusskollege Holger Bellino glaubt das auch.
"Ich vermute, dass es zwei Möglichkeiten gibt. Die eine ist, er hat das Internet-Café verlassen und Sekunden später hat der Mord stattgefunden, so dass es wirklich nicht mitbekommen hat. Auch dann hätte er sich melden müssen, wenn er einen Tag später oder Stunden später hört, dass da etwas passiert ist.
Oder, aber das ist eine meiner Vermutungen: Er hat von dem Mord an sich nichts mitbekommen, er hat das Opfer aber liegen sehen und ist dann panikartig geflüchtet. Das ist eine meiner Vermutungen, dafür gibt es keine Belege. Das weiß Herr Temme nur selbst, ob das eine oder andere richtig ist. Aber ungeachtet dessen, ob er ihn hat liegen sehen, das Opfer oder ob er später von dem schlimmen Mord erfahren hat, er hätte sich melden müssen und zwar schnell melden müssen."
Volker Bouffier verweigerte Aussagegenehmigungen für V-Leute
Doch weil Andreas Temme schweigt, stößt die Polizei erst nach mehreren Tagen auf die Spur, die zu dem Verfassungsschützer führt. Temme gerät unter Mordverdacht, wird abgehört. Die Mord-Ermittler wollen die V-Leute, für die Andreas Temme verantwortlich ist, als Zeugen vernehmen. Doch der damalige hessische Innenminister verweigert die Aussagegenehmigung. Sein Name: Volker Bouffier. Heute ist der CDU-Politiker Ministerpräsident des Landes Hessen. Holger Bellino vertritt die Christdemokraten im Untersuchungsausschuss.
"Es gibt einen Diskussionspunkt, den es damals gab und der betraf die Vernehmung der geführten Quellen. Man kann auch sagen der V-Leute. Der geführten Quellen. Und da gab es den Streit zwischen der Staatsanwaltschaft und der Polizei auf der einen Seite und Verfassungsschutz auf der anderen Seite, ob man diese Klar-Namen nennt und ob man eine Vernehmung durch Polizei zulässt."
Der CDU-Abgeordnete Holger Bellino verteidigt die Entscheidung des heutigen Ministerpräsidenten Volker Bouffier, 2006 die Vernehmung der V-Leute – der sogenannten "Quellen" des Verfassungsschutzes durch die Kasseler Kripo zu untersagen.
"Der damalige Innenminister hat es sich sehr schwer gemacht mit dieser Entscheidung. Er hat externen Rat eingeholt hat dann aber letztendlich eigenverantwortlich und wie wir meinen richtig entschieden.
Denn was in der Diskussion oft untergeht, ist, dass bei diesen sechs Quellen um die es geht, eine rechtsextremistische war und zum anderen aber fünf hochislamistische Quellen waren, die auch im Umfeld eines hochsensiblen Beobachtungsobjektes eingesetzt waren.
Und es wäre gerade in dieser Zeit – Fußballweltmeisterschaft, die Anschläge in Amerika, in Madrid, in London, wäre es fahrlässig gewesen, wenn man diese Quellen geopfert hätte."
Der Sozialdemokrat Günter Rudolph sieht das das im Rückblick auf das Jahr 2006 ganz anders.
"Das können wir überhaupt nicht nachvollziehen, die Fußballweltmeisterschaft hat damit überhaupt nichts zu tun. Der Fall Yozgat war der neunte Fall einer Mordserie mit der gleichen Waffe, wurde er begangen. Das hat sich relativ schnell herausgestellt. Und der Rechtsstaat, das übrigens rankt sich durch alle Morde, der Rechtsstaat hat hier versagt. Man hat nicht für möglich gehalten, dass dort ein rechtsextremer, rechtsterroristischer Hintergrund dahinter steckt.
Und die Quellen, wir haben ja teilweise Personen aus diesem Bereich als Zeugen gehabt, na ja, wenn wir uns auf diese Quellen verlassen, dann müsste man sich um die Sicherheit der Bundesrepublik und auch des Bundeslandes Hessen schon Sorgen machen. Nein, die Vernehmung der Quellen war möglich. Selbst wenn eine Quelle dann abgeschaltet wird – wir reden über die Aufklärung eines Mordes in einem Rechtsstaat."
Schaus: "Da ist nach wie vor ein großes Fragezeichen. Es gab eine Vereinbarung, auch das haben wir rausgearbeitet, zwischen dem Generalstaatsanwalt und dem damaligen Direktor des Landesamtes für Verfassungsschutz, dass die Zeugen vernommen werden und das anonymisiert stattfindet. Eine schriftliche Vereinbarung, die wir in den Akten gefunden haben.
Diese Vereinbarung enthielt aber auch im Gegenzug die Möglichkeit, rechtsstaatlich sehr zweifelhaft, dass das Landesamt für Verfassungsschutz als Arbeitgeber von Temme während der laufenden Ermittlungen in seine polizeilichen Ermittlungsakten einsehen darf. Das ist passiert, tatsächlich zwei Tage nachdem die Vereinbarung geschlossen wurde und der andere Teil der Abmachung ist nie eingehalten worden."
"Quellen" aus der islamistischen Szene sollten nicht gefährdet werden
Sogar Günther Beckstein, der damalige bayerische Innenminister von der CSU, habe seinen Amtskollegen Volker Bouffier 2006 dazu gedrängt, der Vernehmung der V-Leute des hessischen Verfassungsschutzes zuzustimmen.
"Es haben ja im Prinzip, wenn sie so wollen alle bis zum bayerischen Innenminister Beckstein eingeredet auf Bouffier eingeredet kann man sagen, dass er die Vernehmung der V-Leute vornehmen sollte. Die Polizei selbst, also die Mordkommission in Kassel, hatte sogar ermittelt, wer die V-Leute sind. Sie wussten sie, sie kannten sie, sie hätten sie vernehmen können von sich aus, aber sie haben sich nicht getraut, bei der ganzen Auseinandersetzung, die stattgefunden hat. So würde ich das bewerten."
Der CDU-Abgeordnete Holger Bellino hält das nach wie vor für richtig. Gerade die "Quellen" aus der islamistischen Szene in Kassel zu gefährden, wäre fahrlässig gewesen.
"Fahrlässig in doppelter Hinsicht. Zum einen wären diese Quellen hochgefährdet gewesen. Ich weiß nicht, ob die heute noch leben würden. Wir haben es mit Islamisten zu tun. Und das zweite ist, dass wir gerade in dem islamistischen Bereich Schwierigkeiten haben, menschliche Quellen zu platzieren. Das ist nicht so einfach, hier Informationen zu gewinnen. Und dann wären die fünf bloß gestellt gewesen und man hätte diese Quellen zum Versiegen gebracht."
Sie sollten jedoch weitersprudeln – das entschied 2006 letztendlich der damalige hessische Innenminister Volker Bouffier nach einer Güterabwägung.
"Und die Güterabwägung, die Bouffier getroffen hat, die halten wir für falsch und da gibt es nach unserer Auffassung auch keine Ausreden für."
… sagt hingegen SPD-Mann Günter Rudolph. Noch hat der hessische NSU-Untersuchungsausschuss Volker Bouffier nicht als Zeugen vorgeladen. Das soll erst Mitte 2017 der Fall sein. Es wird kein einfacher Gang werden für den heutigen Ministerpräsidenten. Günter Rudolph wirft Bouffier auch vor, 2006 das zuständige parlamentarische Kontrollgremium nicht früh genug über die Ereignisse in Kassel und die mögliche Verwicklung des Verfassungsschutzes informiert zu haben.
"Eine Besonderheit dieses Untersuchungsausschusses: Herr Bouffier als der damalige Innenminister. Der Mord ist am 6. April 2006 passiert. Die Gremien des Landtages, die zuständige parlamentarische Kommission für die Kontrolle des Verfassungsschutzes, ich war damals deren Vorsitzender, wurde von Herrn Bouffier nicht informiert. Der Innenausschuss wurde nicht informiert.
Beide Gremien wurden erst informiert, als ein Bericht in der 'Bild'-Zeitung Mitte Juli 2006 erschienen ist. Das heißt, die Behörden haben über Monate, das haben wir mittlerweile über Aktenstudium festgestellt, bewusst eben die parlamentarischen Gremien nicht informiert und das hat der damalige Innenminister Bouffier zu verantworten. Das ist ein Skandal erster Güte, das hat sich leider in den bisherigen Untersuchungen herausgestellt."
Bei der Gedenkveranstaltung anlässlich der zehnten Wiederkehr des Mordes an Halit Yozgat im Frühjahr 2016 in Kassel fehlt der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier, obwohl er eingeladen war. Stattdessen spricht der stellvertretende Ministerpräsident, der grüne Wirtschaftsminister Tarek Als Wazir.
"Es war ein Versagen des Staates, erst die Gefahr zu unterschätzen, die von der rechtsradikalen Szene ausgeht. Dann die Täter nicht am Untertauchen zu hindern und sie über Jahre nicht zu entdecken, obwohl sie mitten in Deutschland lebten und mordeten. Jahrelang."
Tarek Al Wazir spricht zunächst auf der Kasseler Kundgebung allgemein vom Versagen des Staates. Doch am Rande der Veranstaltung wird er konkret gefragt: Hat nicht auch der damalige Innenminister Volker Bouffier, sein heutiger Chef, 2006 versagt? Der grüne hessische Spitzenpolitiker antwortet ausweichend.
"Es ist so, dass er damals Innenminister war und dass ihm heute teilweise Vorwürfe gemacht werden, Und es ist ihm sehr daran gelegen, hier nicht zu polarisieren. Dass er aber ein großes Interesse daran hat, für die Zukunft daraus zu lernen und dass er auch sehr mit der Familie Yozgat mitfühlt, das können sie glauben."
Hessischer Landesregierung wird Erschwerung der Aufklärung vorgeworfen
Doch immer wieder wird der heutigen hessischen Landesregierung vorgeworfen, die Aufklärung in Sachen NSU-Mord in Kassel zu erschweren. Unlängst etwa von Petra Pau, die die Linkspartei im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags vertritt. Sie spricht von "Vertuschung" durch das hessische Innenministerium. Man habe dem Bundestags-Ausschuss "hartnäckig Akten und Erkenntnisse vorenthalten".
Ähnliche Vorwürfe macht auch der SPD-Abgeordnete Günter Rudolph aus dem hessischen Untersuchungsausschuss der schwarz-grünen Landesregierung in Wiesbaden.
"Bedauerlich ist es, dass wir nach zweieinhalb Jahren immer noch nicht alle Akten aller hessischen Behörden haben. CDU und Grüne habe bisher dies verhindert. Normalerweise bekommt man alle Akten für einen Untersuchungsausschuss, stellt dann Beweisanträge und vernimmt die Zeugen. Hier haben wir schon festgestellt, Zeugen mussten wiederholt doppelt vernommen werden, weil eben noch nicht alle Unterlagen da waren. Und das hat diese Landesregierung zu verantworten und das ist schon eine große Besonderheit zu anderen Untersuchungsausschüssen."
In den bisherigen Untersuchungen des NSU-Ausschusses im hessischen Landtag hat sich zudem herausgestellt, dass die rechtsradikale Szene im Raum Kassel stärker und internationaler vernetzt ist, als bisher weithin angenommen. Vieles spricht dafür, dass die Mörder des NSU in der Kasseler Szene Unterstützer hatten. Hermann Schaus von der Linkspartei.
"Wir hatten ja einen großen Streit darüber, ob wir überhaupt Neonazis als Zeugen vernehmen sollen, hier im Ausschuss. Wir haben das durchgesetzt. Das waren unsere Anträge und ich bin heute sehr froh, dass das gelungen ist. Weil sozusagen auch vor Augen geführt wurde, auch den anderen Parteien, dass es sich hier nicht um eine harmlose Bündelei handelt, sondern dass ganz konkrete Gefahren ausgehen und die auch schon bestanden haben oder bestehen seit Jahren und Jahrzehnten."
Günter Rudolph: "Ja, das war oder ist auch Teil des Untersuchungsauftrages. Es gibt eine rechte Szene in Nordhessen. Eine Verbindung zu anderen Ländern ist oft die Musik, eine Einstiegsdroge für diesen Bereich. Man besucht gegenseitig Konzerte. Es gibt Verbindungen nach Nordrhein-Westfalen, nach Süd-Niedersachsen, nach Thüringen.
Das bestätigt uns auch eher in der These, dass dieses NSU-Trio eben nicht nur zu dritt oder zu fünft unterwegs war. Nach unserer Auffassung gab es eine Helferszene, die ihnen auch zugearbeitet haben, möglicherweise bei der Ausspähung von Tatorten. Weil, in einer fremden Stadt mal zufällig in ein Internet-Café gehen, eine vielbefahrene Straße haben, schnell mal wieder wegflüchten ohne sich zu erkundigen, halten wir für unwahrscheinlich. Nein, die rechte Szene in Nordhessen war durchaus verwoben."
Volker Bouffier wird Mitte 2017 als Zeuge vor den Ausschuss gerufen
Noch mindestens bis Mitte 2017 wird der hessische NSU-Untersuchungsausschuss weiterarbeiten, um die Zusammenhänge rund um den Mord an Halit Yozgat im April 2006 so gut es geht aufzudecken. Bevor schließlich auch Volker Bouffier als Zeuge vor den Ausschuss gerufen wird, sollen Mitglieder der Familie Yozgat noch die Möglichkeit bekommen, ihre Sicht des Mordereignisses und dessen Aufarbeitung bis jetzt im hessischen Landtag darzustellen. Günter Rudolph:
"Wir haben jetzt auch verabredet, dass die Familie auf jeden Fall die Gelegenheit hat, vor den Mitgliedern des Untersuchungsausschusses auch persönlich zu erscheinen und ihre Stellungnahme auch abzugeben."
Später wird es im Ausschuss auch darum gehen, Empfehlungen für politische Konsequenzen abzugeben, die aus dem Mord an Halit Yozgat zu ziehen sind. Schon jetzt ist klar: Die Forderung nach einer besseren parlamentarischen Kontrolle des Verfassungsschutzes ist für die Landtags-Opposition eine notwendige Folge der Ausschussarbeit. Hermann Schaus von der Linkspartei, anschließend der Sozialdemokrat Günter Rudolph:
"Wir haben ja jetzt in Hessen die Situation, dass fünf Abgeordnete in der Kontrollkommission sitzen. Von drei Fraktionen. Also sowohl die FDP als auch die Linke sind ausgeschlossen von der parlamentarischen Kontrolle. Und fünf Abgeordnete! Die Sitzungen sind geheim, die dürfen noch nicht einmal Notizen mit rausnehmen die fünf Abgeordneten. Die haben keine Mitarbeiter, die ihnen zuarbeiten. Die dürfen nicht darüber reden. So geht Kontrolle nicht."
Günter Rudolph: "Die SPD hat schon früher aber auch unmittelbar nachdem klar war, es handelt sich um die NSU-Mordserie im Dezember 2011 eine umfassende Reform und Kontrolle des Verfassungsschutzes gefordert. In der Tat – fünf Abgeordnete, einer von ihnen bin ich – sollen Hunderte von Mitarbeitern des Verfassungsschutzes kontrollieren, ohne Akten, ohne Zuarbeit.
Deswegen fordern wir eine Reform der Kontrolle des Verfassungsschutzes, wo wir Zuarbeit, Mitarbeiter bekommen. Auch etwa, dass es möglich ist, dass diese Kontrollkommission Mitarbeiter vernimmt, unangemeldete Besuche vornimmt, um eine echte Kontrollfunktion, allerdings nur im begrenzten Umfang durchzuführen. Hier ist dringender Handlungsbedarf. Es gibt aus Niedersachsen ein Gesetz zur Reform des Verfassungsschutzes, was wir uns durchaus als Modell vorstellen könnten."
Die schwarz-grüne Landesregierung hat Gesetzesveränderungen zur besseren Kontrolle des Verfassungsschutzes auf den Weg gebracht. Noch liegt kein abschließender Gesetzentwurf vor. Bei einer Landtagsdebatte im Frühjahr 2016 appelliert Jürgen Frömmrich – innenpolitischer Sprecher Grünen – an die anderen Parteien, in dieser Frage nach einem Konsens zu suchen.
"Ich denke, meine Damen und Herren, dass wir alle gut beraten wären, die notwendigen Schlussfolgerungen aus den schrecklichen Mordtaten des NSU zu ziehen und das in möglichst großer Gemeinsamkeit. Daran kann ich eigentlich nur appellieren, meine Damen und Herren."
Ob eine Verfassungsschutz-Reform tatsächlich im Konsens mit der schwarz-grünen Regierungsmehrheit im hessischen Landtag umzusetzen ist, ist allerdings aus Sicht der Opposition sehr fraglich.
CDU-Obmann Holger Bellino zielt mit seinen Reformvorschlägen zunächst etwa auf die Verbesserung der Kommunikationswege der verschiedenen staatlichen Sicherheitsbehörden und der Justiz.
"Ob man dort nicht Möglichkeiten findet, sich noch mehr als bisher zu vernetzten. Und dann ist das große Thema der EDV. Also die Kompatibilität zwischen den Systemen immer wieder überprüft werden muss. Kompatibilität der EDV-Systeme nicht nur innerhalb Hessens, sondern zwischen Hessen, den anderen Bundesländern und der Bundesebene.
Das hört sich so leicht an, aber wenn man sieht, mit welcher Vielzahl von Systemen man da konfrontiert wird, ist dies eine Aufgabe, die uns immer begleitet. Damit man sich im Falle eines Falles, wenn etwas Schlimmes passiert aber auch im Vorfeld sich möglichst optimal vernetzen kann."
Angehörige fordern Umbenennung der Holländischen Straße
Unabhängig davon, was im Landtagsausschuss noch geschehen wird: Die Holländische Straße in Kassel wird erst einmal weiterhin Holländische Straße heißen. Auch wenn Ismael Yozgat schon bei der zentralen Berliner Gedenkveranstaltung im Beisein von Angela Merkel vor einigen Jahren gefordert hat, die Straße umzubenennen. Und diese Forderung bis heute aufrechterhält.
"Unser Wunsch ist, dass die Holländische Straße – unser Sohn Halit Yozgat ist in der Holländischen Straße 82 geboren worden und er ist dort in dem Ladengeschäft umgebracht worden –, dass diese Straße nach ihm benannt wird: Halit-Straße."
Das lehnt die Mehrheit der Kasseler Kommunalpolitiker bisher ab. Immerhin: Seit 2012 gibt es nicht allzu weit entfernt einen kleinen Halit-Platz mit einem Gedenkstein für die Opfer der NSU-Mordserie. Zur Einweihung wurde damals ein Grußwort des Bundespräsidenten Joachim Gauck verlesen. Darin hieß es: "Versäumnisse benennen – Verantwortung bekennen: Nur so werden wir aus tödlichen Fehlern lernen und neue Verbrechen verhindern können. Nur so werden jene, die Halit Yozgat sehr liebten, eines Tages Ruhe finden."
Ruhe – die finden die Mitglieder des hessischen NSU- Untersuchungsausschuss auch in den nächsten Monaten noch nicht. Die anstrengende Arbeit wird mindestens bis zur Jahresmitte 2017 noch weitergehen. Christdemokrat Holger Bellino spricht aus, was viele Mitglieder des parlamentarischen Gremiums im nun dritten Jahr der Untersuchung empfinden.
"Wir haben uns sehr intensiv mit dieser Thematik auseinandergesetzt. Es werden am Ende des Tages gut 100 Zeugen sein, 1500 Aktenstücke oder noch mehr, die man sich hat zu Gemüte führen müssen.
Das ging teilweise unter die Haut. Denn dort wird man auch mit Bildmaterial, auch mit Tonbandaufzeichnungen und Ähnlichem konfrontiert, was man nicht in den Kleidern stecken lässt. Das geht in der Tat mit nach Hause. Weil das zehn Morde waren, die mit niedersten Beweggründen durchgeführt wurden. Ich meine, jeder Mord ist ein Mord zu viel. Aber das ist das, was man Rassismus nennt."
Sozialdemokrat Günter Rudolph hofft mit seinen Abgeordnetenkollegen, dass es gelingt, aus dem brutalen rassistischen Mord an Halit Yozgat tatsächlich für die Zukunft etwas zu lernen.
"Ich weiß es nicht, ich hoffe es sehr, dass man durch die mangelnde Zusammenarbeit oder eben der Nicht-Zusammenarbeit der verschiedenen Sicherheitsbehörden gelernt hat, dass eine solche Mordserie sich in Deutschland nie wieder wiederholt. Dass es nicht darum geht, welche Behörde kann was ermitteln und Eifersüchteleien untereinander. Ein Versagen des Rechtsstaates an der Stelle und dieser Vertrauensverlust muss wieder hergestellt werden.
Deswegen hoffe ich sehr, dass diese NSU-Mordserie dazu beigetragen hat, dass diese Dinge künftig nicht mehr vorkommen. Deswegen: Echte parlamentarische Kontrolle der Arbeit der Verfassungsschützer, professionelle Zusammenarbeit der Behörden des Bundes und der Länder, dieses Zusammenspiel muss sich deutlich verbessern. Und deswegen: die Hoffnung stirbt zuletzt! Ich hoffe sehr, dass diese schreckliche Mordserie auch ein Alarmsignal war. Das wird die Zukunft zeigen."