Alexander M. soll die „NSU 2.0“-Drohungen verfasst haben. Ein Porträt des Beschuldigten – und die Geschichte, wie die Polizei ihn überführte.
Frankfurt – Der Zugriff erfolgt an einem Montagabend. Es ist der 3. Mai vergangenen Jahres, als Spezialeinsatzkräfte des hessischen Landeskriminalamts gegen 21.25 Uhr eine Wohnungstür im Norden Berlins aufbrechen. Als der überrumpelte Bewohner laut rufend auf die Beamten zugeht, schreien sie ihn an, er solle stehenbleiben.
Doch der 53-Jährige läuft weiter, greift nach einer Pistole und richtet sie auf die Polizisten. Dass es sich nur um eine Schreckschusswaffe handelt, wissen die SEK-Beamten nicht. Erst als sie den Mann mit einem Taser bedrohen und ihm dreimal zurufen, sie wollten seine Hände sehen, legt er die Waffe ab und lässt sich Handfesseln anlegen.
Die Polizisten sichern den in der Wohnung stehenden Desktop-PC der Marke Acer. Sie sind absichtlich gegen Abend gekommen, weil sie bereits wissen, dass der 53-Jährige dann in der Regel am Computer sitzt. Das Gerät muss eingeschaltet sein, damit man es ohne Passwort auswerten kann. Später werden die Beamten noch das lokale Gesundheitsamt alarmieren – wegen Hinweisen auf eine vermüllte Wohnung und Ungezieferbefall.
NSU 2.0: Wer ist Alexander M.?
Die abendliche Festnahme im Berliner Ortsteil Gesundbrunnen markiert das vorläufige Ende eines Kriminalfalles, der Hessen und die ganze Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt schon fast zweieinhalb Jahre in Atem hält. Den 53 Jahre alten, ledigen und kinderlosen Alexander M. hält die Staatsanwaltschaft Frankfurt für den Mann, der für eine beispiellose Serie neonazistischer Drohschreiben an Anwält:innen, Politiker:innen, Behörden und Medienschaffende verantwortlich sein soll. Vom 16. Februar an wird M. sich vor dem Frankfurter Landgericht deshalb wegen Bedrohung, Beleidigung, Volksverhetzung und anderer Vorwürfe verantworten müssen.
Die Frankfurter Rundschau hat die 120-seitige Anklageschrift ausgewertet, die die Staatsanwaltschaft im Oktober vergangenen Jahres beim Gericht eingereicht hat. Das Dokument ermöglicht es, sich ein Bild vom Verlauf der Ermittlungen und ihren Ergebnissen zu machen – und davon, wer Alexander M. ist.
Das erste der insgesamt 116 Hassschreiben, die die Ermittler:innen M. zuordnen, geht am 2. August 2018 an die Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz. Unter dem Absender „Uwe Böhnhardt“ – ein Bezug auf einen der Rechtsterroristen vom „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) –, wird die Juristin darin rassistisch beschimpft und ihr angedroht, man werde ihre kleine Tochter „schlachten“. Der Name des Kindes und Basay-Yildiz’ Privatadresse stehen darunter, gezeichnet: „NSU 2.0“.
Vulgär, rassistisch, frauenverachtend: 116 Drohschreiben vom NSU 2.0
Die letzte Drohung der Serie, die die Betroffenen per E-Mail von einem russischen Mailanbieter, per Fax oder SMS erreicht und die der Absender, der sich selbst „SS-Obersturmbannführer“ nennt, gerne mit „Heil Hitler“ beendet, datiert vom 21. März 2021. Dazwischen liegen 116 Schriftstücke vom „NSU 2.0“, voller Hass und bizarrem Humor, vulgär, rassistisch, frauenverachtend und blutrünstig. In den E-Mails werden Bombenanschläge auf Frankfurter oder Berliner Gerichte oder die Walter-Lübcke-Schule in Wolfhagen angedroht, oft sind sie wie behördliche Anschreiben verfasst, die Morddrohungen kommen teils im Stile eines Todesurteils daher.
Oft enthalten die Texte private, sogar speziell gesperrte Daten der Bedrohten, Geburtsdaten, Namen von Eltern und Kindern, Adressen. Da diese Daten teils nicht aus dem Internet, sondern aus Polizeicomputern in Frankfurt und Berlin stammen, wird in der bundesweiten Berichterstattung über den Fall immer wieder der Verdacht geäußert, der „NSU 2.0“ könnte Hilfe aus der Polizei erhalten.
Die Schreiben gehen an die damalige hessische Fraktionschefin und heutige Bundesvorsitzende der Linkspartei, Janine Wissler, an die Bundestagsabgeordnete Martina Renner (Linke), an die Kabarettistin Idil Baydar, an Staatsanwältinnen und Journalist:innen. Fast immer sind die bedrohten Frauen, meist werden sie in den Mails aufs Übelste sexualisiert beleidigt. Oft reagiert der Täter auf Auftritte der betroffenen Frauen in Fernsehsendungen oder anderen Medien, etwa der Frankfurter Rundschau. Auch die FR bekommt Mails von ihm.
NSU 2.0: Vater war Mitglied der Waffen-SS
Der Absender bedroht und beleidigt auch TV-Satiriker:innen wie Jan Böhmermann, Christian Ehring oder Carolin Kebekus. Zudem stellt er Bezüge zu anderen Drohbrief-Serien her, etwa zu jener unter dem Namen „Staatsstreichorchester“, oder bekundet seine Solidarität mit André M., der vom Berliner Landgericht mittlerweile wegen rechtsextremen Drohschreiben zu einer Haftstrafe und der Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik verurteilt wurde.
Der Mann, der für diesen ganzen Hass verantwortlich sein soll, blickt laut Anklageschrift bereits auf einige Niederlagen in seinem Leben und eine beachtliche kriminelle Karriere zurück. Geboren 1968 in Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR, als Sohn einer Lehrerin und eines Mannes, der im Zweiten Weltkrieg Mitglied des Totenkopfverbandes „Thüringen“ der Waffen-SS war – stationiert auf dem Gelände des Konzentrationslagers Buchenwald. Der Vater starb, als Alexander M. 16 war.
Nach einer mäßig erfolgreichen Schullaufbahn absolvierte er eine Ausbildung zum EDV-Facharbeiter, verlor seine Stelle bei einer Ostberliner Bank aber nach der Wende 1990. Zum Zeitpunkt seiner Festnahme bezog er der Anklage zufolge Sozialleistungen, hatte offenbar kaum soziale Kontakte und musste sich mit einer Räumungsklage seiner Vermieterin herumschlagen, die eine Verwahrlosung der Wohnung befürchtete.
Alexander M.: NSU 2.0-Verantwortlicher war mehrfach vorbestraft
Als die Polizei die Wohnung durchsuchte, fand sie neben einem Schlagstock, anderen Waffen, USB-Sticks und drei Computern, auf denen sich Bilder und Videos von sexuellem Kindesmissbrauch befanden, auch eine Reihe ungewöhnlicher Bücher, die fein säuberlich in ein Regal sortiert waren. Sie thematisieren den Holocaust und die Psychologie nationalsozialistischer Täter, vor allem aber psychologische und rhetorische Tricks zur gezielten Täuschung und Manipulation.
Mit Täuschungen scheint Alexander M. in den vergangenen Jahren einige Erfahrung gesammelt zu haben, so wie auch mit Konflikten mit dem Gesetz. Insgesamt zehn Vorstrafen listet die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklageschrift auf. M. wurde im Zeitraum von 1994 bis 2014 wegen Betrugs, gefährlicher Körperverletzung, Amtsanmaßung, Beleidigung, Bedrohung, Androhung von Straftaten, Verleumdung und Besitz sogenannter Kinderpornografie verurteilt, mehrmals saß er im Gefängnis.
Besonderes Augenmerk richten die Ermittler:innen darauf, dass M. sich in der Vergangenheit bereits am Telefon als Polizist ausgab, etwa gegenüber einer Bank, um an Kundendaten heranzukommen – und dass er Menschen, vor allem Frauen, mit denen er Konflikte hatte, teils auf übelste Weise bedrohte und auch antisemitisch beleidigte.
NSU 2.0: Täter über Online-Schachportal identifiziert
Aus der Anklageschrift geht auch hervor, wie das hessische Landeskriminalamt, das die Ermittlungen ab Dezember 2018 übernommen hatte, auf Alexander M. stieß. Da der Absender der Drohungen vom „NSU 2.0“ zur Anonymisierung im Netz einen Tor-Browser benutzte, war er nicht zu identifizieren. Über Internet-Recherchen stieß das Bundeskriminalamt aber auf Leserkommentare auf der rassistischen Hetzplattform „Politically Incorrect“ (PI-News), die den Drohschreiben sprachlich ähnelten. Mit Sprachgutachten konnten sechs regelmäßige Kommentatoren ausgemacht werden, deren Kommentare wie die Texte vom „NSU 2.0“ klangen.
Weitere Ermittlungen führten dann zu Profilen auf einem Online-Schachportal, die ebenfalls ähnliche sprachliche Wendungen benutzten, teils schon wegen rassistischer Beleidigungen abgemahnt worden waren und auch dieselben Alias-Namen hatten wie Kommentatoren bei PI-News.
Als die Ermittler:innen herausfanden, dass einige der Drohschreiben vom „NSU 2.0“ genau dann abgeschickt wurden, wenn die entdeckten Profile Schachspielpausen machten, erhärtete sich der Verdacht, dass der Drohschreiber, der Kommentator bei PI-News und der Schachspieler dieselbe Person sein könnten. Im Frühjahr vergangenen Jahres gelang es mit IP-Adressen, Mobilfunknummern und weitere Daten für die Schachseite, Alexander M. zu identifizieren. Der 53-Jährige hat der Anklage zufolge bislang alle Vorwürfe zurückgewiesen.
Frankfurt: Prozess um NSU 2.0 beginnt im Februar
Zu der politisch äußerst heiklen Frage im NSU 2.0-Prozess, wie es Alexander M. gelungen sein soll, an teilweise gesperrte private Daten zu kommen, heißt es in der Anklage lediglich, aufgrund seiner Vorstrafen, der von ihm besessenen Literatur und verschiedener bei ihm aufgefundener Gesprächsnotizen müsse davon ausgegangen werden, dass er diese Daten durch Täuschungen erlangt haben müsse. Das soll wohl heißen: M. soll es geschafft haben, sich am Telefon als Polizist auszugeben und Beamt:innen dazu zu bringen, ihm die entsprechenden Daten zu geben.
Die Betroffenen der Drohserie, etwa Seda Basay-Yildiz und die Linken-Politikerinnen Janine Wissler und Martina Renner, haben schon nach M.s Festnahme deutlich gemacht, dass sie dieser Erklärung gerade bei speziell geschützten Daten wenig Glauben schenken können. Neben der Frage, ob Alexander M. schuldig oder unschuldig ist, wird dieses Problem ab Februar auch das Frankfurter Landgericht umtreiben. (Hanning Voigts, Pitt von Bebenburg)
Der Prozess:
Am Dienstag, 16. Februar, beginnt das Verfahren gegen Alexander M. Der 54-jährige erwerbslose Berliner ist angeklagt wegen der rechtsextremen Drohschreiben-Serie mit dem Kürzel „NSU 2.0“ und wegen seines Verhaltens bei der Festnahme.
Die Liste der Vorwürfe ist lang. Sie umfasst Beleidigung in 67 Fällen, versuchte Nötigung, Bedrohung, Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten, Verbreiten von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, öffentliche Aufforderung zu Straftaten, Volksverhetzung, den tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte, Besitz kinder- und jugendpornografischer Schriften sowie Verstoß gegen das Waffengesetz.
Das Landgericht Frankfurt hat zunächst 14 Verhandlungstermine bis Ende April festgesetzt, geht aber davon aus, dass das Verfahren noch länger dauert. Als Zeuginnen und Zeugen werden etliche der bedrohten Personen erwartet.
19 Plätze stehen für Vertreter:innen der Medien zur Verfügung. Auch die Zahl der weiteren Zuschauer:innen ist beschränkt.
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