www.welt.de/politik/deutschland/article155869160/SIM-Karten-eines-V-Manns-jahrelang-versteckt.html SIM-Karten eines V-Manns jahrelang versteckt?
Der Verfassungsschutz gerät erneut in Erklärungsnot: Plötzlich tauchen mehrere SIM-Karten eines verstorbenen Informanten auf – der hatte einst auch Kontakt zum NSU-Terroristen Uwe Mundlos.
Die Geschichten der beiden "Corellis" könnten unterschiedlicher nicht sein. Arcangelo Corelli war ein italienischer Komponist und Violinist. Er starb 1713 im Alter von 60 Jahren und wurde im Pantheon in Rom beerdigt, neben bekannten Kirchenmalern wie Raffael oder del Vaga.
Der andere Corelli stammte aus Sachsen-Anhalt, aus Morl bei Halle. Auch er mochte Musik, jedoch nicht gerade Barock – eher Hasssongs gegen Ausländer, Juden und Linke. Die meiste Zeit seines Lebens war er ein Rechtsextremist. Eigentlich hieß er Thomas Richter. Den Decknamen "Corelli" erhielt er vom Verfassungsschutz.
Rund 18 Jahre lang arbeitete Richter in Sachsen-Anhalt und Sachsen als Quelle, als sogenannter V-Mann, für den Geheimdienst.
Er lieferte Informationen aus der rechtsextremen Musikszene, aus Kameradschaften und sogar dem deutschen Ableger des Ku-Klux-Klans. Während seines Wehrdienstes im Jahr 1995 lernte Richter zudem den späteren NSU-Terroristen Uwe Mundlos kennen.
Bei der Durchsuchung einer Garage in Jena stießen Ermittler drei Jahre später auf eine Kontaktliste von Mundlos, auf der sich auch zwei veraltete Telefonnummern von Thomas Richter befanden.
180.000 Euro "Gehalt" für den Spitzel
Im Verfassungsschutz galt Thomas Richter als "Top-Quelle", bekam Spitzenhonorare für seine Spitzeleien – insgesamt 180.000 Euro. Zuletzt lebte der ehemalige V-Mann unter falschem Namen in einem Schutzprogramm des Verfassungsschutzes in Schloß Holte-Stukenbrock bei Paderborn.
Dort starb Richter im April 2014 im Alter von 39 Jahren an einem unentdeckten Diabetes. Bestattet wurde er als "Thomas Dellig".
Zwei Jahre nach seinem Tod wird der einstige V-Mann "Corelli" nun zu einem Debakel für den Verfassungsschutz. Und das nicht etwa, weil der Rechtsextremist zu den Schlüsselfiguren im NSU-Komplex gehört – dafür gibt es bislang keine Hinweise –, sondern aufgrund der schlampigen, schleppenden Aufarbeitung seines Falls.
Nachdem zuerst ein verschollenes Handy des Spitzels beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) in Köln-Chorweiler gefunden wurde, tauchten nun plötzlich auch noch mehrere bislang unbekannte, niederländische SIM-Karten auf. Eigentlich hätten sie längst ausgewertet sein müssen – vor allem auf einen möglichen NSU-Bezug hin.
Alles nur Zufall?
Geschredderte Akten, ein toter V-Mann, NSU-Papiere, die bei einem Hochwasser im sächsischen Chemnitz vor sechs Jahren von der Flut mitgerissen wurden – die Pannenserie beim Verfassungsschutz scheint nicht enden zu wollen.
Und mit jedem neuen Fall wächst das Misstrauen gegenüber dem Inlandsgeheimdienst. Wirklich alles nur teilweise peinliche Zufälle oder doch gezielte Vertuschung?
Auf Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen dürften schon bald unangenehme Fragen zukommen. Noch am Dienstagabend wurden die Mitglieder des NSU-Untersuchungsausschusses über den neuen Fund der SIM-Karten informiert.
Diesen Mittwoch steht zudem die nächste Sitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKGr) an, das die Geheimdienste kontrolliert. Auch dort muss Maaßen wohl Rede und Antwort stehen zu den Vorgängen in seiner Behörde.
V-Mann-Führer rückt in den Fokus
Hat Deutschlands oberster Verfassungsschützer seine Behörde noch im Griff? Wie viel "Übersehen" und "Vergessen" ist noch akzeptabel? Welche Konsequenzen zieht Maaßen aus den offensichtlichen Verfehlungen seiner Mitarbeiter?
Im aktuellen Fall des "Corelli"-Handys rückt zunehmend sein V-Mann-Führer in den Fokus. Also jener Verfassungsschützer, der Thomas Richter jahrelang betreute, seine Hinweise aufnahm und ihn anleitete, neue Informationen zu beschaffen.
Der Beamte, der schwere gesundheitliche Probleme haben soll, hat augenscheinlich über den Tod seiner Quelle hinaus einige Privatsachen von "Corelli" verwahrt, statt sie seinem Arbeitgeber zu übergeben.
Bei einem Bürowechsel im Juli 2015 war ein Handy im Schrank des Verfassungsschützers gefunden worden. Doch erst im April dieses Jahres konnte es wohl dem verstorbenen V-Mann "Corelli" zugeordnet werden.
Mehr als 1000 Fotos gespeichert
Aufgefallen war das Mobiltelefon erst bei der fünften Durchsuchung des Kölner Büros von "Corellis" V-Mann-Führer. Es handelte sich bereits um das siebte Mobiltelefon, das der Rechtsextremist im Laufe der Jahre verwendet hatte. Das Samsung-Smartphone lag in einem Umschlag im Panzerschrank mit der Aufschrift "privat beschafft". Thomas Richter hatte das Handy angeblich seinem V-Mann-Führer freiwillig übergeben, als er in die Schutzmaßnahme kam.
Wieso musste der Panzerschrank des Verfassungsschützers mehrfach durchsucht werden? Warum kommen die Habseligkeiten von "Corelli" nur Stück für Stück zum Vorschein? Auf Nachfrage soll der V-Mann-Führer geantwortet haben, er habe sich nicht mehr erinnern können, dass das Handy "Corelli" gehörte.
Verfassungsschutzpräsident Maaßen will im Urlaub vom Handy-Fund erfahren haben. Nach seiner Rückkehr informierte er am 11. Mai das Kontrollgremium für die Geheimdienste - zu spät, wie es von Seiten der Opposition heißt. Denn bereits am 21. April soll Maaßen erstmals von dem Vorgang erfahren haben.
Außerdem übergab der Verfassungsschutz das besagte Handy zur Untersuchung an das Bundeskriminalamt (BKA). Auf dem Telefon, das der V-Mann für rund vier Monate im Jahr 2012 nutzte, also nach seiner "Abschaltung" durch den Verfassungsschutz und lange nach seinem Kontakt zu NSU-Terrorist Uwe Mundlos, sollen sich neben zahlreichen privaten Nachrichten an Freunde aus der Auto-Tuning-Szene und an weibliche Bekanntschaften auch zahlreiche Kontaktdaten von bekannten Rechtsextremisten befinden. Das Handy enthält außerdem mehr als 1000 Fotos.
Danksagung an den NSU
Im Jahr 2002 hatte "Corelli" eine Ausgabe des rechten Hetzblattes "Der Weisse Wolf" an den Verfassungsschutz geliefert. Darin fand sich an einer Stelle auch eine Danksagung an den "NSU" für eine Geldspende über 2500 Euro.
Dem Hinweis ging der Verfassungsschutz allerdings nicht nach. Drei Jahre später übermittelte "Corelli" seinem V-Mann-Führer auch eine CD mit rechtsextremen Bilddateien, die wohl auch von den NSU-Terroristen für ihre Bekennervideos verwendet worden waren.
Auch in diesem Fall erfolgte keine systematische Auswertung. Gefunden hat die CD später das BKA im Archiv des Verfassungsschutzes.
Bei dem nun aufgetauchten Handy und den SIM-Karten des V-Mannes "Corelli" gibt es bislang jedoch keinerlei Belege, dass sich darauf ein Bezug zum Trio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe befindet. Oder auch zum Umfeld der Terrorzelle.
Wurde die SIM-Karte manipuliert?
Dennoch soll Verfassungsschutzpräsident Maaßen vor Wut getobt haben. Nicht ohne Grund. Denn die scheibchenweise Aufarbeitung der V-Person "Corelli" ist inzwischen nur noch schwer erklärbar.
Wieso wurde beispielsweise der Arbeitsplatz des betroffenen Verfassungsschützers erst so spät durchsucht? Und warum überhaupt besaß der Rechtsextremist derart viele Mobiltelefone? Hat der V-Mann-Führer das jetzt aufgetauchte Telefon oder die SIM-Karten gar manipuliert?
Der Grünen-Politiker Jerzy Montag hat im Auftrag des Parlamentarischen Kontrollgremiums als Sachverständiger die Causa "Corelli" untersucht – auch mit Bezug zur Mordserie des NSU.
Der Abschlussbericht umfasst mehr als 300 Seiten. Darin kritisiert Montag unter anderem das sehr enge Verhältnis zwischen Thomas Richter alias "Corelli" und seinem V-Mann-Führer.
War das Verhältnis zu "Corelli" zu eng?
"Problematisch war nach Ansicht des Sachverständigen die langjährige Führung durch denselben V-Mann-Führer", heißt es im Bericht. Dabei sei eine sehr enge Verbindung entstanden, die "zu einem partiellen Verlust an Kritikfähigkeit geführt habe".
Es ziehe sich "wie ein roter Faden durch die Akten, dass der engagierte langjährige V-Mann-Führer sich immer wieder für 'seinen' V-Mann eingesetzt habe", so Montag weiter. Dies sei innerhalb der Behörde durchaus bemerkt worden, ohne dass daraus Konsequenzen folgten.
Wie eng das Verhältnis zwischen Verfassungsschützer und Spitzel war, das belegen die Dokumente, die Jerzy Montag bei seinen Recherchen einsehen konnte. Als dem Neonazi Thomas Richter im Jahr 1995 strafrechtliche Ermittlungsverfahren drohten, soll sein V-Mann-Führer das BKA darum gebeten haben, vorab über Durchsuchungen oder eine Festnahme informiert zu werden.
Die Staatsanwaltschaft forderte der Verfassungsschützer sogar auf, das Verfahren gleich ganz einzustellen.
"Sinnlose Legendierungsmaßnahmen"
Im Jahr 1999 meldete sich das Landeskriminalamt (LKA) Sachsen-Anhalt beim Verfassungsschutz. Dem Rechtsextremisten Thomas Richter drohe ein Verfahren aufgrund seiner rechtsextremen Webseite. Dort seien verfassungswidrige Symbole zu sehen.
Der V-Mann-Führer forderte "Corelli" daraufhin auf, die Seite vom Netz zu nehmen. Aber damit nicht genug. "In drei Fällen löschte der V-Mann-Führer selbst Inhalte aus den Gästebüchern dieser Seiten aus Sorge, dass sie strafrechtliche Ermittlungen nach sich ziehen könnten", schreibt der Sonderermittler Montag in seinem Abschlussbericht.
Und auch als die Quelle "Corelli" vor vier Jahren medial enttarnt wurde und in ein Schutzprogramm kam, verhielt sich ihr V-Mann-Führer ungewöhnlich engagiert. Er schlug vor, gemeinsam mit seinem Informanten in eine konspirative Wohnung zu ziehen und den Ort absolut geheim zu halten.
Das zuständige Referat im Verfassungsschutz rebellierte dagegen. Von "sinnlosen Legendierungsmaßnahmen" war die Rede.
"Wünsch dir ein schönes Wochenende"
Thomas Richter wurde schließlich im September 2012 offiziell als Quelle des Verfassungsschutzes abgeschaltet. Der Neonazi lebte von Oktober 2013 an als "Thomas Dellig" in der Nähe von Paderborn.
"Im Zuge des Fortgangs der Schutzmaßnahmen kam es immer wieder zu Konflikten zwischen dem bisherigen V-Mann-Führer und dem dafür zuständigen Referat", so der Befund des Sachverständigen.
Im März 2014, also mehr als ein Jahr nach Ende der Zusammenarbeit, traf sich der Verfassungsschützer ein letztes Mal mit seinem ehemaligen Informanten.
Am Folgetag schickte der V-Mann Thomas Richter seinem langjährigen Kontaktmann eine SMS: "Wünsch dir ein schönes WE, auch wenn ich dich nicht mehr anrufen soll oder darf."