www.jungewelt.de/2016/02-10/079.php»Staatsanwalt im Nacken«
NSU-Aufklärern droht Strafverfolgung, wenn sie am falschen Ort aus Akten zitieren. V-Mann-Führer Temme musste kein Disziplinarverfahren fürchten. Gespräch mit Hermann Schaus
Interview: Claudia Wangerin
Im Münchner NSU-Prozess beantwortet die Hauptangeklagte Beate Zschäpe neuerdings schriftlich Fragen des Gerichts, die Glaubwürdigkeit ist zweifelhaft. Nach Zschäpes Worten war der NSU kein größeres Netzwerk; Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt mordeten demnach allein. Sie gehören dem Untersuchungsausschuss an, der zuletzt Geheimdienstzeugen zum Mord an Halit Yozgat 2006 in Kassel befragt hat. Was ist Ihr Eindruck?
Was den damaligen V-Mann-Führer Andreas Temme betrifft, der seinerzeit am Tatort war, rücken jetzt die Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz, die bisher mit ihm solidarisch waren, von ihm ab. Vieles an ihren Darstellungen bleibt trotzdem sehr nebulös und widerspricht teilweise dem, was in den Akten steht.
Könnte deren Distanz zu Temme mit seinen Zeugenauftritten vor dem Oberlandesgericht München zu tun haben, wo ihn der Vater des Opfers direkt der Lüge bezichtigte?
Temme hat bei insgesamt fünf Zeugenaussagen im NSU-Prozess keine gute Figur gemacht. Gleiches gilt für seinen ersten Auftritt in unserem Untersuchungsausschuss. Ich denke, es ist reiner Selbstschutz, wenn seine Vorgesetzten jetzt nicht auch in diese Mühlen hineingeraten wollen.
Temme ist nach wie vor Beamter – wenn auch nicht mehr beim Verfassungsschutz, sondern im Regierungspräsidium Kassel. Wäre das unter normalen Umständen überhaupt noch der Fall?
Das ist eine sehr dubiose Geschichte, der wir akribisch nachgehen. Temme hat sich aktenkundig einer Reihe von Dienstpflichtverletzungen schuldig gemacht – selbst wenn jede Spekulation über die Hintergründe seines Verhaltens außen vor bliebe. Da wäre zum Beispiel die Mitnahme seiner Waffen in die Dienststelle. Er war Sportschütze und wollte sie dort reinigen. Zu Hause hatte er sowohl privat gehortetes Nazipropagandamaterial als auch vertrauliche Akten aus dem Landesamt, die er nicht hätte mitnehmen dürfen. Sie wurden dann bei der Hausdurchsuchung gefunden, als er für kurze Zeit Hauptverdächtiger im Mordfall Yozgat war, weil er sich nicht als Zeuge gemeldet hatte, seine Login-Daten aber an einem der Rechner in dem Internetcafé festgestellt wurden und zum wahrscheinlichen Zeitpunkt des Mordes an dem jungen Besitzer passten. Allein die Mitnahme dieser Akten hätte im Normalfall ein Disziplinarverfahren nach sich gezogen. Bei Temme ist das sang- und klanglos eingestellt worden.
Hätte er nicht auch die Telefonate mit einem V-Mann aus der Neonaziszene am Tag des Mordes protokollieren müssen?
Sein Vorgesetzter, Herr Muth, hat in der letzten Sitzung unseres Untersuchungsausschusses gesagt, normalerweise müssten die Telefonate, die mit V-Leuten geführt werden, auch protokolliert werden. Im Übrigen habe man sich da kurz zu halten. Für lange Gespräche seien persönliche Treffen vorgesehen. Wir haben aber bisher in den Unterlagen weder ein Protokoll des Telefonats, das Temme mit dem V-Mann Benjamin Gärtner am 6. April 2006 kurz vor seinem Gang ins Internetcafé führte, noch von dem unmittelbar danach. Und dieses hat immerhin elf Minuten gedauert. Es war also ein auffällig langes Gespräch, wenn man die Anweisung bedenkt, sich kurz zu halten – trotzdem hat Temme bei der Polizei »vergessen«, es anzugeben. Angeblich kann er sich nicht mehr daran erinnern.
Könnte sein Beamtenstatus der Grund sein, warum er nicht die Aussage verweigert hat, wie es Zeugen zusteht, wenn sie sich mit wahrheitsgemäßen Antworten selbst belasten würden?
Er ist seit der damaligen Polizeivernehmung immer mit seiner Version durchgekommen, die besagt, dass er durch Zufall am falschen Ort war und in dem Internetcafé nur privat gechattet hat. So gesehen hat er keinen Grund, die Aussage zu verweigern, was bei einem Beamten und Staatsdiener auch befremdlich wirken könnte.
Der Untersuchungsausschuss vernahm letzte Woche auch Heinz Fromm, der 1991 bis 1993 Chef des hessischen Verfassungsschutzes war, als von dort einige Beamte nach Thüringen wechselten, wo sich das spätere mutmaßliche NSU-Kerntrio radikalisierte. Als es 2011 aufflog, war Fromm Chef des Bundesamtes. Wieviel wusste er nach Ihrer Einschätzung von den Aktivitäten seiner Mitarbeiter?
Fromm hat ausgesagt, dass die inhaltliche Arbeit beim Aufbau des Landesamtes in Thüringen nicht von Hessen aus geleitet worden sein. Weil Hessen damals »rot-grün« regiert war, hätten die Thüringer lieber mit den Rheinland-Pfälzern und den Bayern zusammengearbeitet. Er hat die Rolle Hessens in diesem Punkt sehr klein gemacht. Herr Muth, der Abteilungsleiter von Temme, der seit 1978 im hessischen Landesamt tätig war, hat sinngemäß gesagt, es seien nicht immer die besten Mitarbeiter gewesen, die von dort nach Thüringen wechselten.
War Fromm als hessischer Behördenchef möglicherweise froh, dass er auf diesem Weg »Problemfälle« wie Peter Nocken loswurde, gegen den ermittelt wurde, nachdem der V-Mann Siegfried Nonne angab, er sei zur Falschaussage im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen RAF-Mord am Deutsche Bank-Chef Alfred Herrhausen genötigt worden?
Zu Nocken haben wir bei diesen Zeugen nicht viel in Erfahrung bringen können. Und Fromms persönliche Rolle ist schwer einzuschätzen. Vieles spricht nach meinen bisherigen Einblicken dafür, dass die Ebene unterhalb des Verfassungsschutzpräsidenten real mehr Macht und Einfluss auf Entscheidungen hatte – das gilt auch für die Zeit, in der Lutz Irrgang das hessische Landesamt leitete, also auch zum Zeitpunkt des Mordes an Halit Yozgat.
Zu Ihrer Arbeit im Untersuchungsausschuss: Welche Fraktionen sind aus Ihrer Sicht am ehesten an Aufklärung interessiert?
Die SPD-Fraktion und wir. Die FDP ist zwar auch Oppositionspartei, tritt aber als solche so gut wie nicht in Erscheinung. Mit den Vertretern der Koalitionsfraktionen, also der CDU und der Grünen, haben wir Konflikte, die auch in den öffentlichen Sitzungen erkennbar sind, aber hinter verschlossenen Türen ist das Klima regelrecht vergiftet.
Die Grünen haben zum Beispiel im bayerischen NSU-Untersuchungsausschuss durchaus qualifizierte, geheimdienstkritische Fragen gestellt. In Hessen sind sie nun Juniorpartner der CDU, die mit Volker Bouffier den Ministerpräsidenten stellt. Als Innenminister hat er nach dem Mord an Yozgat mit einer Sperrerklärung Ermittlungen im Verfassungsschutzmilieu verhindert: Quellenschutz vor Mordaufklärung. Sitzen die Grünen jetzt in der Regierungsbeteiligungsfalle?
Sie unterscheiden sich jedenfalls in diesem Ausschuss keinen Zentimeter von der CDU und unterstützen deren Linie. Beispielsweise haben die Koalitionsfraktionen im Streit um die geschwärzten Akten des Landesamtes für Verfassungsschutz ein vollkommen praxisfernes Verfahren durchgesetzt: Wenn es von einzelnen Abgeordneten gewünscht wird, kommen Vertreter des Landesamtes mit der ungeschwärzten Akte, die wir dann hinter verschlossenen Türen einsehen können, unsere sicherheitsüberprüften Mitarbeiter allerdings nicht. Das erschwert unsere Arbeit. Die SPD und wir prüfen zur Zeit, ob wir deshalb das hessische Verfassungsgericht, also den Staatsgerichtshof anrufen.
Und wenn Sie nun bei der Akteneinsicht eine wichtige Entdeckung machen, dürfen Sie darüber nicht öffentlich sprechen?
So ist es. Ab der Geheimhaltungsstufe VS vertraulich dürfen in öffentlicher Sitzung des Ausschusses keine Vorhaltungen aus den Akten gemacht werden.
Kann der Ausschuss dann überhaupt einen Abschlussbericht vorlegen, der für die Öffentlichkeit nachvollziehbar ist?
Wir werden wohl zu gegebener Zeit besprechen müssen, ob auch der Abschlussbericht einen vertraulichen Teil haben wird. Fakt ist, dass natürlich nicht im Detail veröffentlicht werden kann, was in vertraulichen oder geheimen Akten steht. Dieses Problem haben aber alle Untersuchungsausschüsse, dass ihre Mitglieder mehr wissen, als sie öffentlich sagen dürfen. Es ist nicht unkompliziert, wenn ich das in meinem Kopf immer sortieren muss, weil mir der Staatsanwalt im Nacken sitzt, falls ich das mal aus Versehen verwechseln sollte.