1997 als der Spiegel noch voll Nazi war ...
Zeitbomben in den Vorstädten
Die Ausländerintegration ist gescheitert. Überall im Land entsteht eine explosive Spannung. Bei jungen Türken und Aussiedlern, Randgruppen ohne Perspektive, wächst die Bereitschaft, sich mit Gewalt zu holen, was die Gesellschaft ihnen verweigert.
Jeden letzten Freitag im Monat wird das Haus der Jugend im Hamburger Stadtteil Barmbek zur Festung. Etwa 30 Polizisten gehen mit Einsatzfahrzeugen in der Nähe des schäbigen Vorstadtbaus in Stellung. An der Eingangstür tasten drei Wachleute jeden Besucher ab, die Tanzfläche im ersten Stock wird von Beamten in Zivil überwacht. Anwohner, die nach dem Grund der Polizeipräsenz fragen, erfahren knapp und lakonisch: "Russen-Disko".
Die Ordnungshüter schützen rund 400 deutsche Jugendliche, die der Christliche Jugendsozialdienst zum Tanzvergnügen lädt - die meisten kommen aus Sibirien und Kasachstan und sprechen untereinander nur russisch.
Die Polizei gehört zum Partyservice, seitdem sich die jungen Aussiedler im vergangenen Sommer mit Türken eine Massenschlägerei lieferten. Selbst wenn die Musik nicht mehr spielt, bleiben die Beamten wachsam. Sie eskortieren die Jugendlichen zur S-Bahn, bis zum Hauptbahnhof patrouilliert der Bahnschutz in verstärkter Besetzung durch die Waggons. Für Klaus Fahrenkrog von der Polizeidirektion Ost macht der Aufwand Sinn: "Das kann hier jederzeit wieder knallen, da müssen wir präsent sein. Man kann nie wissen, durch welchen blöden Zufall die Stimmung plötzlich wieder explosiv wird."
Bei den Kämpfen zwischen Türken und Aussiedlern sei es "manchmal zu völlig absurden Situationen" gekommen, berichtet Wolfgang Dürre, Jugendbeauftragter der Hamburger Polizei. Aus den türkischen Reihen seien die Beamten sogar schon aufgefordert worden: "Schmeißt doch endlich mal diese Kanaken raus."
Junge Ausländer, in Deutschland geboren und aufgewachsen, gegen Einwanderer mit deutschem Paß, die das Land nicht kennen und der deutschen Sprache kaum mächtig sind - eine Konfliktkonstellation, die der Logik von Bandenkriegen in den Slums amerikanischer Großstädte zu folgen scheint.
Hannelore Schulz-Schönberg, Lehrerin an der Schule "Königstraße" in Hamburg-Altona (Ausländeranteil: 65 Prozent), hat häufig miterlebt, wie solche Kämpfe ausgehen: "Meist gewinnen die Türken, denn die treten immer in Gruppen auf und sind besser organisiert."
Gleich neben ihrer Schule haben "Russen" geschmuggelte Zigaretten verkauft. Wenn die Polizei kam, verzogen sie sich auf den Pausenhof - wo ihnen türkische Schüler, mit Messern und Gaspistolen bewaffnet, das Geld abnahmen.
Auch die Lehrerin selbst wurde bedroht. Als ihr Sohn vor drei Jahren beim Ballspiel im Gymnasium versehentlich die Goldkette eines jungen Türken zerriß, meldete sich dessen Vater telefonisch: "Ich stech'' dich ab, wenn du das Ding nicht ersetzt."
Im Friedrich-Schöning-Weg im Stadtteil Osdorf geben dagegen die jugendlichen Aussiedler den Ton an. Im dortigen "Übergangswohngebiet" leben 438 Rußlanddeutsche, meist aus Kasachstan und Sibirien, in schmucken Backstein-Mehrfamilienhäusern mit weißlackierten Balkonen. Für Antje F., die nebenan auf dem Gelände eines ehemaligen Jugendheimes wohnt, sind "die Russen eine richtige Plage geworden".
Wodkaflaschen im Garten, gestohlene Fahrräder, eine Couch, die von der Terrasse verschwand - Kleinigkeiten, die den Alltag unerträglich machen können. Und nachts der Lärm: "Die saufen und johlen bis morgens um drei - immer draußen und zu jeder Jahreszeit."
Daß das Haus, in dem sie lebt, zu drei Vierteln aus Holz besteht, beunruhigt die alleinerziehende Mutter von drei Töchtern, seitdem ein Schuppen im Obstgarten im vergangenen Frühjahr abgefackelt wurde. "Irgendwann", fürchtet sie, "setzen die das alles hier in Brand."
Früher hat sie jeden Zwischenfall bei der Polizei gemeldet. Mittlerweile hat sie resigniert: "Da passiert ja doch nichts."
Daß Anzeigen "nicht viel bringen", glaubt auch Eva Maria S., die in der Nachbarschaft wohnt. Ihr Mann war von betrunkenen Jugendlichen verprügelt worden, doch die Täter waren nicht dingfest zu machen. "Die haben so viele Kumpels. Was meinen Sie, wie leicht da jeder ein Alibi findet", klagt die Frau.
Immer mehr Bürger fühlen sich im eigenen Land bedroht, mißbraucht und in die Defensive gedrängt. Eigene Erfahrungen, diffuse Ängste und Erlebnisberichte aus zweiter Hand erzeugen ein Klima, in dem die Schuldigen rasch ausgemacht sind.
Nach einer bisher unveröffentlichten Umfrage in einer Großstadt Nordrhein-Westfalens sind inzwischen mehr als 40 Prozent der Bewohner der Ansicht, daß "sich die Deutschen im eigenen Land gegen die vielen Ausländer wehren müssen". 1995 glaubte das lediglich ein Viertel der Befragten.
Verstärkt wird dieses Gefühl durch die täglichen Nachrichten über Straftaten von Ausländern. Wenn
* rumänische Banden allein in den letzten vier Wochen im norddeutschen Raum 45 Tresore knacken;
* Osteuropäer und Türken die Reviere an der Hamburger Reeperbahn unter sich ausschießen und dabei in einem Jahr 20 Tote und 40 Verletzte auf dem Pflaster liegen;
* der Türke Mulis P. in der vergangenen Woche nach Deutschland ausgeliefert wurde, weil er mit seiner 500 Mann starken Bande allein zwischen 1988 und 1990 rund 90 000 Kurden nach Deutschland geschmuggelt haben soll; und
* die Kieler Industrie- und Handelskammer ihre Mitglieder über den Umgang mit Schutzgelderpressern per Faltblatt informieren muß,
ist bei vielen der erste Reflex: Deutschland verkommt zum Ausplünderungsland.
Die ganze Geschichte --->
www.spiegel.de/spiegel/print/d-8694129.html