www.thueringer-allgemeine.de/web/zgt/leben/detail/-/specific/Chronik-des-NSU-Prozesses-27-Anklaeger-gegen-Beweisantraege-der-Opferanwaelte-600210496Chronik des NSU-Prozesses (27): Ankläger gegen Beweisanträge der Opferanwälte
28.05.2016 - 01:31 Uhr
München. Die Hauptangeklagte im NSU Prozess Beate belastet vor Pfingsten ihren Mitangeklagten Holger G. schwer. Das Gericht lehnte wieder mehrere Anträge der Nebenklage ab.
Am 6. Mai 2013 begann vor dem Oberlandesgericht in München einer der größten Prozesse gegen Neonazis in Deutschland. Der Staatsschutzsenat soll über die Verbrechen einer mutmaßlichen Terrorzelle urteilen, die für zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle verantwortlich gemacht wird. Haben drei 1998 untergetauchte Neonazis aus Jena den "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) gebildet? Die einzige Überlebende, die 41-jährige Beate Zschäpe, ist der Mittäterschaft bei zehn Morden, der Bildung einer terroristischen Vereinigung und besonders schwerer Brandstiftung angeklagt. Ralf Wohlleben (41) und Carsten S. (36) müssen sich wegen Beihilfe zu neun Morden verantworten. Holger G. (41) wirft die Bundesanwaltschaft Unterstützung des NSU vor. André E. (36) muss sich unter anderem wegen versuchten Mordes verantworten.
273. Verhandlungstag: 5. April 2016 Richter Manfred stellte Götzl Beate Zschäpe erneut ein knappes Dutzend Fragen. Diesmal beschäftigen sie sich mit der Rolle des Angeklagten Holger G. und dessen Beziehung zu Zschäpe und den verstorbenen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt beschäftigen. Was wusste dieser über die Taten des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU)? Was wusste dieser aus Zschäpes Sicht über die Herkunft der 10"000 Mark, die ihm Böhnhardt zur Aufbewahrung übergeben habe? Das Gericht will auch wissen, welchem Zweck die Treffen mit Holger G. dienten.
Die Anklage wirft dem 41-Jährigen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vor. Er soll mehrfach Ausweispapiere für Böhnhardt übergeben haben.
Die Verteidiger des früheren NPD-Funktionärs Ralf Wohlleben haben in einer "Gegenvorstellung" ihre "erheblichen Zweifeln an einer fairen Verfahrensführung durch das Gericht" vorgebracht. Ihr Mandant sei in "unzulässiger Weise beeinträchtigt worden", heißt es. Zugleich fordern sie, die Inhalte eines USB-Sticks, der bisher in der Verfahrensakte nur erwähnt wird, den Verfahrensbeteiligten zukommen zu lassen und den Prozess dafür für eine Woche zu unterbrechen.
274. Verhandlungstag: 12. April 2016 Die fünf Richter des Staatsschutzsenats am Oberlandesgericht in München sollen "grob sachfremd und willkürlich" gehandelt haben, als sie die Forderungen des Angeklagten Wohlleben und seiner Verteidiger ablehnten, dessen Verfahren abzutrennen und auszusetzen, bis Aktenvollständigkeit hergestellt sei. Daher lehne Wohlleben nach den Worten seiner Anwälte alle fünf Richter des Senats wegen Befangenheit ab.
Als Folge des Antrags fällt ein weiterer Prozesstag aus. Es ist allein in diesem Jahr der neunte Verhandlungstag. Ein weiterer Senat des Oberlandesgerichts muss nun über eine mögliche Befangenheit der Richter entschieden.
Mehrere Nebenkläger haben gefordert, unter anderem den V-Mann "Primus" als Zeugen zu laden. Dieser Antrag ist eine Reaktion auf in der Vorwoche bekannt gewordene mögliche Verbindungen des Spitzels zu Mundlos und Zschäpe. Der V-Mann Ralf M. soll zwischen 1992 und 2002 für das Bundesamt für Verfassungsschutz unter anderem in der sächsischen Skinheadszene unterwegs gewesen sein. Mundlos sei zeitweise unter dem Tarnnamen Max M. auch in seiner Baufirma beschäftigt gewesen, heißt es. Der Spitzel bestreitet die Verbindungen zu den drei Flüchtigen.
275. Verhandlungstag: 13. April 2016 Foto 96 wird an zwei Wände des Münchner Schwurgerichtssaals A101 projiziert, plötzlich sind alle Verfahrensbeteiligten hellwach. "Das könnte der Schweizer gewesen sein", sagt Jens L. Der bullige Zeuge wird zum zweiten Mal befragt. Bis zu diesem Satz kam wenig Erhellendes von ihm. Immer wieder verweist der Mann, der in Jena in den 1990er-Jahren eine kriminelle Bandenkarriere hinlegte und dafür lange Zeit hinter Gitter saß, darauf, sich nicht erinnern zu können.
Doch dann zeigt das Gericht Foto 96 aus einer "Lichtbildmappe" der Polizei und der 49-Jährige reagiert mit einer für seine Verhältnisse deutlichen Antwort. Richter Götzl hakt sofort nach, wie das zu verstehen sei, "könnte der Schweizer gewesen sein"? "Ich dachte, dass der so ähnlich aussah. Bin mir aber nicht sicher", weicht der Zeuge bereits wieder aus.
"Wenn sie mir den Namen Hans Ulrich M. sagen und mitteilen, dass dieser aus Apolda kommt, dann kommt mir das bekannt vor. Ich glaube, der hatte irgendwas mit Waffen zu tun, das heißt, er hat Waffen verkauft oder gekauft", soll Jens L. am 20. Januar des Vorjahres während einer Befragung durch das Bundeskriminalamt in Gera angegeben haben. Diese Aussage hält der Richter nun dem 49-Jährigen vor.
"Wenn ich das so gesagt habe, dann wird das so sein", erwidert dieser. Der Schweizer Hans Ulrich M. wohnte in den 1990er- Jahren eine Zeit lang auch im thüringischen Apolda.
Die Aussage des Zeugen ist an dieser Stelle für den Prozess wichtig. Denn die Anklage nennt Hans Ulrich M. als eine der Personen, über welche die spätere NSU-Mordwaffe, eine Pistole der Marke "Ceska 83" samt Schalldämpfer, von der Schweiz nach Deutschland in den Szeneladen Madley" nach Jena gelangt sein soll.
Das Gericht verhandelt an diesem Tag unter Vorbehalt, da über den Befangenheitsantrag des Angeklagten Wohlleben noch nicht entschieden wurde.
276. Verhandlungstag: 19. April 2016 Das Gericht diktiert Zschäpe-Verteidiger Mathias Grasel weitere Fragen. Zumeist interessierten sich die Richter für Präzisierungen bisher gegebener Antworten der Hauptangeklagten. Bei einigen Fragen drehte es sich aber auch noch einmal um den Angeklagten Holger G. sowie um die von Zschäpe in Jena angemietete Garage. Die Verhandlung hatte ohnehin erst am Nachmittag begonnen. Zum verlas das Gericht mehrere Berichte verschiedener Verfassungsschutzbehörden zu den Angeklagten.
277. Verhandlungstag: 20. April 2016 Opferanwalt Eberhardt Reinecke beantragt, dass sich die Prozessbeteiligten eine CD mit Urlaubsfotos von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt ansehen sollen. Die bisher nicht gezeigten Bilder würden die mutmaßlichen Terroristen beim Radfahren oder Eisessen, beim Baden oder in der Sonne liegen zeigen und so die jüngste Aussage der Angeklagten widerlegen, dass sie entsetzt gewesen sei, als ihr die beiden Männer vom Nagelbombenanschlag am 9. Juni 2004 in der Kölner Keupstraße erzählten. Die entspannt wirkenden Fotos sollen nur sechs Wochen nach dem Anschlag entstanden sein. Bundesanwalt Herbert Diemer hatte sich zudem dafür ausgesprochen, einen Antrag der Nebenklage abzulehnen, in dem die Befragung des früheren Verfassungsschutzspitzels Ralf M. gefordert wurde. Mundlos soll bei M. in der Baufirma gearbeitet haben.
278. Verhandlungstag: 21. April 2016 Das Gericht, aber auch die Bundesanwaltschaft, streben ein Ende des NSU-Prozesses an. Damit verbunden ist das Abarbeiten noch vorhandener Beweisanträge. Jochen Weingarten sprach sich vor Gericht dafür aus, die Forderung von Opferanwälten, mehrere Verfassungsschützer aus Brandenburg als Zeugen zu befragen, abzulehnen: wegen "Bedeutungslosigkeit und mangels Aufklärungsbedürftigkeit, wie es in seiner Begründung hieß. Zu Beginn der Verhandlung hatten erwartungsgemäß zwei Kriminelle aus Jena die Aussage verweigert.
279. Verhandlungstag: 26. April 2016 Wieder einmal versuchte das Gericht den Weg einer der mutmaßlichen NSU-Mordwaffen, einer Pistole der Marke "Ceska 83" mit Schalldämpfer, näher zu beleuchten. Ein Richter sagte über die Vernehmung einer Frau aus der Schweiz aus, die mit einem der Männer verheiratet ist, über welche laut Anklage die Waffe ihren Weg nach Jena gefunden hatte. Die Frau musste im schweizerischen Thun befragt werden, da sie nicht bereit war, in München vor Gericht eine Aussage zu machen. Der Richter beschriebt die Zeugin als einsilbig und dass sie sich an kaum etwas erinnern konnte. Sie wusste allerdings auch noch, dass ihr Mann einmal ein Paket erhalten haben soll, dass er ungeöffnet weitergegeben habe.
280. Verhandlungstag: 27. April 2016
Hermann Borchert, der Wahlverteidiger von Beate Zschäpe hat das Aussetzen des NSU-Prozesses beantragt. Er benötige mindestens bis Anfang 2017 Zeit, um die ihm übergebenen, digital abgespeicherten Prozessakten mit den Originalunterlagen in diesem Verfahren abgleichen zu können. Der Anwalt beruft sich auf das Gericht und bezweifelt, dass seine digitalen Unterlagen, vollständig seien. Der Staatsschutzsenat hatte keine Garantie für Fehler beim Einscannen oder Kopieren übernommen.
Die Anwälte von Ralf Wohlleben beantragten zudem, erneut den Verfassungsschutzinformanten Tino Brandt als Zeugen zu befragen. Der frühere Neonazi-Führer soll im Jahr 2000 dem Angeklagten Carsten S. das Geld für die Ceska-Pistole übergeben haben. Die Anklage nennt Ralf Wohlleben und wirft ihm und Carsten S. deshalb Beihilfe zum Mord vor.
281. Verhandlungstag: 10. Mai 2016 Der NSU-Prozess erreicht sein viertes Verhandlungsjahr und wird fortgesetzt. Wie vom Gros der Prozessbeteiligten erwartet, lehnt der Staatsschutzsenat den Aussetzungsantrag von Hermann Borchert ab. Bundesanwalt Herbert erklärt anschließend, dass einer erneuten Vernehmung von Tino Brandt nicht entgegengetreten werde.
Der Senat lehnt zudem mehrere Anträge von Nebenklägern ab, weitere Zeugen zu befragen. Unter anderem sollte so nachgewiesen werden, dass Verfassungsschutzbehörden die Festnahme der untergetauchten, Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt, im Herbst 1998 verhindert hatten, weil sie einen Spitzel schützen wollten.
Die Richter verdeutlichten in der Begründung ihrer Ablehnung, dass die bisher vorliegenden Informationen nicht den Schluss zulassen, der Aufenthalt der drei Gesuchten hätte von staatlichen Behörden zwingend ermittelt werden können.
Sollte diese Sicht der Richter auch in mögliche Urteile einfließen, hieße das, die Angeklagten dürften keine Strafminderung erwarten, weil staatliche Behörden bei der Suche nach den drei Untergetauchten und der Aufklärung der NSU-Verbrechen versagt haben.
Zudem hat das Gericht für die Prozessbeteiligten die Möglichkeit geschaffen, auch außerhalb der üblichen Geschäftszeiten die Originalunterlagen des Verfahrens in der Geschäftsstelle einsehen zu können. Inzwischen sind diese leer.
282. Verhandlungstag: 11. Mai 2016 Mehrere Anwälte von Opfern der NSU-Verbrechen kritisieren das Ablehnen ihrer Beweisanträge in dieser Woche durch das Gericht. Der Bundesanwaltschaft werfen Sebastian Scharmer und Peer Stolle zudem eine "bewusst defizitäre Informationspolitik" vor. Noch immer würden "wichtige Aktenbestandteile den Hinterbliebenen der Ermordeten sowie den Verletzten des NSU und ihren Anwälten" vorenthalten. Das verhindere eine "weitere Konkretisierung der Anträge".
Der Senat um Richter Götzl verwarf unter anderem die Forderung, den Zeugen Ralf M. sowie den V-Mann-Führer des Spitzels, zu laden. Begründet wurde die Ablehnung damit, dass es beim derzeitigen Verfahrensstand "nicht mehr notwendig" sei, den Zeugen zu hören, weil seine Angaben für das Verfahren "tatsächlich ohne Bedeutung" wären.
Am 282. Verhandlungstag wurden vor Gericht etwa 100 Urlaubsfotos vom Juni 2004 gezeigt. Zu sehen ist ein unbeschwert wirkender Camping-Aufenthalt des Trios Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt an der Ostsee. Die Reise fand nur wenige Wochen nach dem Nagelbombenanschlag vom 26. April 2004 in der Kölner Keupstraße statt.
283. Verhandlungstag: 12. Mai 2016 Nur wenige Wochen nach ihrem Untertauchen im Januar 1998 sollen die mutmaßlichen Rechtsterroristen Zschäpe, Mundlos und Bönhardt in Hannover in eine Polizeikontrolle geraten sein. Das geht aus im NSU-Prozess verlesenen vierten Aussage der Hauptangeklagten hervor. Danach wollten die drei den Angeklagten Holger G. besuchen, weil sie hofften, er könnte ihnen eine Wohnung in der Gegend um Hannover besorgen.
Laut Zschäpe wurde Holger G. aber nicht angetroffen. Stattdessen gerieten die drei Flüchtigen mit ihrem Fahrzeug in eine Drogenkontrolle der Polizei. Böhnhardt soll sich mit Alias-Papieren ausgewiesen haben. Auch sollen den Beamten entgangen sein, dass sie in einem Pkw mit gestohlenen Kennzeichen saßen. Sie hätten "ungehindert weiterfahren" können, verliest Borchert die Aussage.
Die geschilderte Begebenheit ist neu. Hinweise darauf findet sich weder in den Prozessakten noch hat einer der Prozessbeteiligten bisher darüber gesprochen. Sollte stimmen, was Borchert vorgetragen hat, wäre diese Kontrolle eine der besten Möglichkeiten gewesen, das flüchtige Neonazi-Trio kurz nach dem Untertauchen durch zu fassen. Nach den dreien wurde bundesweit gesucht, weil Ermittler in einer von ihnen genutzten Garage in Jena Ende Januar 1998 Teile von Rohrbomben und Militärsprengstoff sichergestellt hatten.
Zschäpe bleibt mit Ausnahme dieser Episode aber ihrer Linie treu und räumt nur ein, was ohnehin bekannt ist. Allerdings belastete sie mit ihrer neuerlichen Aussage den Mitangeklagten Holger G. schwer. Dieser wusste von den Raubüberfällen, weil ihm in den Jahren 2000 oder 2001 die inzwischen verstorbenen Mundlos und Böhnhardt 10"000 Mark zum Aufbewahren anvertraut hätten. Von den Morden und Bombenanschlägen soll er aber nichts erfahren haben. Sie und ihre beiden Kumpel hätten ihm nicht vertraut, so Zschäpe.
Die 41-Jährige bestätigt auch, dass Mundlos und Böhnhardt Holger G. zwischen 2009 und 2011 noch für sogenannte "Systemchecks" besucht hätten. Dabei soll es um das Überprüfen der Lebensdaten von G. gegangen sein, weil Böhnhardt unter anderem einen Reisepass und eine Fahrerlaubnis von ihm für seine Tarnidentität nutzte. G. soll mehrfach von seinem Wohnort bei Hannover zum Trio nach Zwickau gefahren sein. Im letzten mutmaßlichen NSU-Quartier, in der Frühlingsstraße, war er offenbar nicht.
Bild 1: Bundesanwalt Herbert Diemer, Oberstaatsanwältin Anette Greger und Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten warten im Mai 2015 auf den Verhandlungsbeginn. In den vergangenen Wochen ist die Bundesanwaltschaft mehrfach Beweisanträgen, vor allem der Nebenklage, entgegengetreten. Vielleicht ein Indiz auf ein mögliches Prozessende noch dieses Jahr. Archiv-Fotos: Sascha Fromm
Bild 2: Begrüßung zwischen Beate Zschäpe und ihrem Wahlverteidiger Hermann Borchert. Gemeinsam mit Mathias Grasel (rechts) übernahm er im Vorjahr mit einer neuen Strategie die Verteidigung.
Kai Mudra / 28.05.16 / TA